Quasikristalle: Roman (German Edition)
Geschichte, erfuhr Heike, dass man nicht einmal weiß, wie Cäsars Ermordung im Detail ablief. Ob Brutus tatsächlich als Erster zugestochen hat? Ob er überhaupt dabei war? Das hat sie damals sehr überrascht. Das war, im Rückblick, der Anfang ihres bewussten Studiums des menschlichen Nichtwissens. Seither ergänzt sie es kontinuierlich.
Das ist wahrscheinlich das Anstrengendste an den Gesprächen mit den Patienten: dass sie glauben, es gäbe für alles eine Erklärung. Die gibt es nicht. Jeder Hunde-oder Blumenzüchter rechnet mit Erfolg und Misserfolg, das liegt im Wesen der Zucht. Es gibt bessere und schlechtere Jahrgänge, und es gibt Ausschuss. Die Natur produziert Unmengen an Ausschuss. Frauen werden mit vierhunderttausend Eizellen geboren, davon werden im Laufe ihres Lebens vierhundert reif. Das ist ein Promille. Die deutsche Geburtenrate liegt inzwischen nur noch bei eins Komma drei Kindern pro Frau. Aber selbst früher, als die Frauen acht oder zehn Kinder bekamen, war das erstaunlich wenig im Vergleich zu vierhundert oder vierhunderttausend Möglichkeiten. Weil es so kompliziert ist. Weil so viel schiefgehen kann, siehe Eileiter, siehe Mumps, siehe Infektionen, Gerinnungsstörungen, Krampfadern im Hoden, Abstoßungsreaktionen, genetische Defekte und so weiter.
Vor Kurzem hatte Heike eine Schwangere zum zweiten Ultraschall da, doch die Herzaktion war weg, einfach nicht mehr auffindbar. Kein Bildschirmblinken, nichts. Die Frau war in Tränen, wollte aber erst einmal nachdenken. Auch da gibt es ja solche und solche. Die einen wollen einen toten Embryo unbedingt innerhalb von Stunden abgesaugt haben, raus aus ihrem Bauch, weg damit; die anderen gehen nach Hause und warten, bis ihr Körper das von selbst erledigt. Und wenn es Wochen dauert. Sie nennen das Abschied. Die Betreffende jedenfalls, die alles der Natur überlassen wollte, bekam Tage später Bauchschmerzen und änderte ihre Meinung. Sie begab sich ins Krankenhaus, ohne Frühstück, sie rechnete mit der Currettage. Aber der Herzschlag war wieder da, alles prima, Patientin wieder nach Hause, inzwischen wahrscheinlich rund wie eine Regentonne. Natürlich fragt sich auch Heike, wie so etwas möglich ist. Ihr Gerät ist nicht kaputt, und sie ist eine äußerst erfahrene Sonografin. Sie ist aber weit davon entfernt, sich schuldig zu fühlen, denn auf diesem Gebiet gibt es die erstaunlichsten Sachen. Diese Geschichte hat Heike letztes Mal Frau Harnik-Schwartz erzählt, als jene mit Grabesstimme über den mangelhaften Herzschlag des millimetergroßen Wesens auf dem schwarz-weißen Monitor klagte. Frau Harnik-Schwartz hat sie ungläubig angesehen. Man kann in dieser Phase nur abwarten, hat Heike hinzugefügt, neugierig, ob das wirke, und Frau Harnik-Schwartz hat geantwortet: Das ist wie Folter für mich.
Heike hat ihr nicht gesagt, dass sie die Form der Fruchthöhle beunruhigender fand als den Herzschlag, der vielleicht langsamer war als normal, aber nur einen Tick. Die Fruchthöhle jedoch war plattgedrückt wie der Querschnitt einer Scholle – hat sie Frau Jänicke gesagt, dass sie den Fisch herausnehmen muss? Ja, sie hat, sie hat, meine Güte – plattgedrückt, nicht rund und prall wie ein Luftballon. Und jetzt sitzt Frau Harnik-Schwartz schon wieder da draußen und weint, und sie, Heike, hat eigentlich ins Fitness-Center gewollt. Sie hat leichte Schmerzen in Nacken und Knie. Sie ist keine zwanzig mehr. Sie ist seit sieben in der Klinik, Laura und Lennart schlafen noch, wenn sie das Haus verlässt. Um sieben Uhr dreißig hat sie der Klopfer zehn Eizellen abgesaugt, alle reif und brauchbar, auch das vermerkt in dem nachmittäglichen Laborbericht, nebst Schwangerschaften und Fehlversuchen. Frau Klopfers Punktion ist bald neun Stunden her, selbst die bleiche Baukes hat mittlerweile Feierabend und verbringt ihn bei Douglas. Frau Cornelius sitzt am Rande eines Spielplatzes, wo Käthchen im Sand gräbt, und überlegt, wie sie ihrem Mann die Zwillinge beibringt. Die Bankberaterin bedankt sich mit einem Glas Prosecco bei ihrem Mann, dem Schwachstromingenieur, für seine fabelhafte Solidarität zu Beginn eines schwierigen Weges. Frau Molin liegt auf dem Sofa, den Laptop aufgeklappt, und könnte inzwischen ein Referat über die Funktionen der Hypophyse und den Flare-up-Effekt halten. Vielleicht tut sie das auch, ihrem Mann gegenüber, an den sich Heike schlecht erinnern kann. Oder sie sucht schon nach Hebammen und schicker Umstandsmode. Am wenigsten Zeit hat Frau
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