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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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notiert hatte. Der Straßenname war so lang und konsonantengespickt, dass er lieber nicht versuchte, ihn vorzulesen. Die Frau besprach sich mit dem Busfahrer, Nelson musterte sie in aller Ruhe. Sie war nicht so jung, wie sie auf den ersten Blick wirkte, aber natürlich viel jünger als er. Müdigkeit lag über ihrem Gesicht wie eine zweite Haut. Sie war ein Typ, der beim zweiten und dritten Blick schöner wurde, sodass man sich über den eigenen ersten, den flüchtigen, beinahe zu ärgern begann. Was, wenn der Busfahrer Englisch gekonnt hätte? Dann wäre sie ihm entgangen.
    Nelson wunderte sich über gar nichts mehr. Er hatte schon früher in den seltsamsten Situationen Menschen getroffen, die ihm eine Weile geblieben waren, manche für immer. Er erkannte sie sofort, an einem ganz bestimmten freien Blick, bei dem man sich einhaken konnte, ohne Bedingungen.
    Die Frau erklärte, dass ihn eine U-Bahn näher an sein Ziel bringen würde. Sie selbst habe wenig Vertrauen in das baldige Eintreffen des Ersatzbusses, deshalb biete sie ihm ihren Schirm und ihre Begleitung an, es sei ein Fußweg von etwa zehn Minuten. Allerdings im strömenden Regen, sagte sie und sah ihn fragend an. Er hob die Schultern. Ich begebe mich gern in Ihre Hände, sagte er. Bevor sie ausstiegen, bedankte sich Nelson bei dem Busfahrer und verabschiedete sich auf Deutsch. Vielen Dank und auf Wiedersehen, das war ja nicht sehr schwierig. Aber so richtig gewöhnt waren es die Leute nicht.
    Damals schlief er bereits mit Vivian, was ihn von Anfang an beglückte und verwirrte. Es hatte in Den Haag begonnen, nach seinem Kreislaufzusammenbruch. Der Arzt hatte ihm vierundzwanzig Stunden Bettruhe verordnet, obwohl er bloß überanstrengt und unterzuckert gewesen war, dazu die schlechte Luft in einem Konferenzraum mit giftigem Licht. Während er dalag und döste, fragte er sich, ob es mit seiner psychischen Kraft nun doch zu Ende ging, eineinhalb Jahrzehnte nach den Ereignissen. Er hatte sich nie aus so geringen Gründen ins Bett schicken lassen, aber jetzt lag er ohne jeden inneren Protest da und starrte an die cremeweiße Hilton-Decke. Den Termin mit der Chefanklägerin ließ er absagen.
    Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, kam der Arzt zur Kontrolle. Er horchte Nelsons Herz ab, maß den Blutdruck und ermahnte ihn, regelmäßiger zu essen. Vivian begleitete den Arzt hinaus und kam mit den Unterlagen und ihrem winzigen Computer zurück. Sie setzte sich in einen Sessel, Nelson saß gegenüber auf einem breiten Sofa. Er wusste nicht, wieso er sich im Scherz zur Seite kippen ließ, vielleicht war es die Fortsetzung des korrumpierenden Nichtstuns vom Vortag. Sie war mit einem Sprung bei ihm. Er lag seitlich auf dem Sofa, verdrehte die Augen und beschwerte sich: Vivian, ich werde alt. Sie lachte erleichtert und streichelte seine Wange. Da zog er sie an sich, und später schien ihm, sie habe das erwartet. Als gehörte das Befriedigen intimer körperlicher Bedürfnisse ebenso zu ihren selbstverständlichen Aufgaben wie das strenge Filtern seiner Gesprächspartner und die Koordination der Termine.
    Vivian lächelte professionell, wenn man sie in Europa für Nelsons Assistentin hielt. In Wahrheit gaben sie ein Stück mit verkehrten Rollen. Sie war eine enge Freundin, ein Mensch, der ihm seit Langem beim Überleben half, mit deren Mann Nelson Schach spielte und deren jüngstes Kind er kannte, seit es lesen gelernt hatte. Als Literaturagentin hatte sie ein Vermögen gemacht. Sie stellte ihm ihre Arbeit und ihre Infrastruktur zur Verfügung, weil sie Nelson verbunden war und an seine Mission glaubte, womöglich mehr als er selbst. Und deshalb war Vivian wahrscheinlich die einzige Frau der Welt, mit der er zu schlafen wagte, weil er sich auf ihre Solidarität und Diskretion verließ.
    Sie sprachen nie darüber. Beide benahmen sich, als fänden diese zärtlichen, ausgelassenen und, jedenfalls für Nelson, überaus erfüllenden Liebesspiele in einer Parallelwelt statt. An ihrem Verhalten außerhalb von Hotelzimmern änderte sich nicht das Geringste. Sie sprachen im Bett nicht über Termine, und sie ließen beim konstruktiven Arbeitsfrühstück niemanden merken, dass sie nur ein paar Stunden zuvor stöhnend vor Genuss ineinandergesteckt hatten. Vivian schlief danach in ihrem eigenen Zimmer. Sie schliefen immer in Nelsons Zimmern miteinander. Sie blieb im Grunde nie länger, als es für eine ausführliche Besprechung schicklich gewesen wäre. Falls jemand das Ein und Aus

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