Quasikristalle: Roman (German Edition)
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6 Nelson hat fremde Städte im Regen, bei Nacht immer gemocht. Man konnte unterschlüpfen, den Einheimischen spielen, man wurde eins mit den müden Massen in Bahnen und Bussen. Touristen springen nur bei Licht ins Auge, es sei denn, sie entfalten kummervoll ihre Stadtpläne. Nelson stellte sich vor, dass all die verschiedenen Städte, die er bereiste, wie Kulissen im selben schwarzen Theaterraum standen. Diesem Hintergrund, dem festen, gesichtslosen Weltgebäude, galt es, sich anzuverwandeln, damit er sich da, wo er zufällig gerade war, nicht allzu fremd fühlte. Als umfassend Heimatloser fand er dieses Bedürfnis verständlich. Nacht und Regen warfen eine milde Decke über die Großstädte der Welt, und sie begannen sich zu ähneln.
Nelson war schlank und nicht groß. Er hielt sich deshalb sehr aufrecht. Er kleidete sich mit Bedacht so unauffällig, wie es ihm zu seinem Aussehen am besten zu passen schien. Er wirkte, als trüge er seit vielen Jahren dieselben Sachen, dabei modernisierte er sie unaufhörlich. Denn selbst bei klassischen Hemden und Hosen änderten sich mit der Zeit die Schnitte und Knopfgrößen.
Seit er eine Lesebrille brauchte, war sein auffallendstes Merkmal zeitweise versteckt. Seine Augen waren verschiedenfarbig, eins braun, eins blau, eine Laune der Natur. Das kommt direkt von Gott oder vom Teufel, hatte seine Großmutter, die nach Teig und Zigaretten roch, gesagt, dazwischen gibt es nichts. So, wie sein Leben verlief, schien sie auf eine etwas andere Weise, als sie gemeint hatte, recht zu behalten. Gott hielt die Hand über ihn, aber der Teufel war ihm einmal so nahe gekommen, dass er seinen Atem immer noch spürte.
Wäre er heute jung, hätte er es mit einer farbigen Kontaktlinse versuchen können. Doch war es sein Prinzip, das, was kam, anzunehmen, ohne Ausnahme. Dafür gab er seit über fünfzehn Jahren ein Beispiel, das weit über seine Körpergröße hinausging und seinen Namen in Zusammenhang mit dem Friedensnobelpreis gebracht hatte. Der zweite Nelson, wie witzig. Er hoffte innig, dass er ihn nie bekam. Viele fragten ihn, woher er die Kraft nahm. Nur enge Freunde wussten, dass ihn diese Frage beinahe beleidigte. Solange man nicht tot war, stand man eben jeden Morgen wieder auf. Er ließ sich nur selten ein Wort über seinen Schmerz entlocken, ein dürres, vorsichtiges Wort. Die langen Pausen, in denen er scheinbar um Worte rang, machten den Fragestellern höflich, aber wirkungsvoll klar, dass sie eine Grenze übertreten hatten. Er hatte nie abgelehnt, eine bestimmte Frage zu beantworten, obwohl er die persönlichen Fragen meistens so gut wie unbeantwortet ließ.
Viele seiner Gesprächspartner, Diplomaten, Journalisten, berichteten, dass die unterschiedlichen Augen gar nicht auffielen, so sehr ziehe einen das, was er sage, in den Bann. Dabei hatte er das schon als Kind, aus der Not, perfektioniert: Er wollte einen Blick wie ein Schlangenbeschwörer haben, damit sie sich ihm überließen und nicht hin-und herschauten, als wären seine Augen nur aufgenähte Knöpfe.
Plötzlich rumpelte der Bus, als hätte er etwas überfahren. Das Licht fiel einen Moment lang aus, ein, zwei Mädchen schrien auf, gewiss weniger aus Angst, sondern aus einem von Fernsehserien erzeugten Habitus. Der Fahrer bremste scharf, Nelson bemerkte die Hände ringsum, die sich wie choreografiert zu den gelben Haltestangen hoben, manche waren schon dort, packten aber fester zu. Alles bebte, vor, zurück, dann stand der Bus still. Der Fahrer stieg aus, schien im Regen umherzutappen, man konnte nicht viel sehen, es war ziemlich voll. Als Nelson wieder von der Zeitung aufsah, traf sein Blick den einer Frau, die ihm gefiel. Sie hob fragend die Augenbrauen, er ebenfalls, beide lächelten. Nelson las weiter. Später gab es eine Durchsage, und die Türen gingen auf. Einige machten sich murrend unter Regenschirmen davon, andere begannen zu telefonieren, der große Rest schien auf irgendetwas zu warten. Nelson stand auf, kämpfte sich nach vorn und fragte den Fahrer, ob er Englisch spreche. Der schüttelte den Kopf, unfreundlich wie alle, die sich schämen, griff aber immerhin zum Mikrofon und fragte seine Passagiere. Die Frau, mit der Nelson Blicke getauscht hatte, kam nach vorn. Besser hätte er es nicht treffen können.
Das Ding ist kaputt, erklärte sie und lächelte wieder, er sagt, es kommt Ersatz, aber das kann dauern. Wo müssen Sie hin?
Er zeigte ihr den Zettel, auf dem er die Adresse eines alten Freundes
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