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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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muss ich nach Brüssel, sagte sie.
    Ich auch!
    Im Ernst?
    Warte, bleib dran, ich habe hier irgendwo einen Reiseplan – Mittwoch. Mittwochnachmittag habe ich ein paar Stunden frei.
    Ruf mich an, ja?
    Bis dann.
    Bis dann, ja.
    Er freute sich auf sie, gleichzeitig zweifelte er an sich. Verdarb er durch die Verabredung London, den Zufall eines herrlichen Nachmittags? Wurde daraus bereits eine Geschichte? Dann sollte er sich wohl über deren Fortgang Gedanken machen. Er war ein alter Mann, im Vergleich zu ihr. Denkt nicht jeder jüngere Mensch darüber nach, ob die eigenen Eltern noch miteinander schlafen, und befindet sie, befremdet, als zu alt dafür? Als er fünfzehn war, waren seine Eltern noch keine vierzig. Jünger also als Xane, die ihn nicht ansah wie einen alten Mann und sich auch nicht so verhielt. In London hatte er ihr gesagt, dass er gern zuhöre, wenn sie Deutsch spreche. Am Telefon hatte sie ihm gesagt, dass sie seither an ihn denke, wenn sie abends ihrem Kind vorlese.
    In einem anderen Leben hätte er gern ausprobiert, wie es wäre, mit ihr zu schlafen, daran bestand kein Zweifel. Aber das war nicht das Wichtigste; er hatte ja Vivian, die sichere, genau bemessene Lust.
    In einem anderen Leben hätte er allerdings gedacht, dass es sich lohnen könnte, mehr zu wollen als von Vivian.
    In einem anderen Leben hätte er sie nie kennengelernt! Da hätte er, wie Generationen seiner Familie zuvor, mit seinen Söhnen sein kleines Land bewirtschaftet, auf die eine oder andere Weise. Hätte mit Sicherheit kürzer gelebt als der westliche Durchschnitt. Das konnte immer noch geschehen. Sie waren keine Bauern gewesen, aber zu manchen Zeiten hatten sie welche sein müssen. Nelsons Vater war Friseur gewesen; der Großvater Busfahrer. Aber die Geschichte seiner Familie in jenem Land war vorbei, die Geschichte seiner Familie insgesamt. Beendet mit einem großen, sternförmigen Blutfleck an der Hausmauer, der wohl zum Großteil von seiner Frau und dem jüngsten Kind stammte.
    In einem belgischen Café lächelten Xane und er einander über Schlagsahnebergen zu. Xane wirkte angespannter als zuletzt. Man sollte weniger nachdenken. Das sagte er laut.
    Wenn das so einfach wäre, antwortete sie. Sie sah ihn prüfend an, dann holte sie eine Kamera aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Tisch. Ich möchte ein Foto von uns beiden, sagte sie.
    Nelson lächelte abwehrend.
    Nicht was du denkst, sagte sie.
    Was denke ich?
    Als wollte ich ein Autogramm von dir. – Leg deine Hand hierhin.
    So?
    So.
    Sie legten ihre Hände nebeneinander auf die Tischplatte, mit leicht gespreizten Fingern, ihre Daumen berührten sich. Sie zeigte ihm das Foto, eindeutig nur zwei Hände auf marmoriertem Untergrund, daneben ein Teller mit Schokoladentorte. Sie fragte ihn, ob er sich auch die Ohren zutraue. Sie steckte eine Haarsträhne hinter ihrem Ohr fest, rutschte um den Tisch herum und lehnte sich an ihn, den Kopf ein bisschen abgewandt, damit nichts anderes aufs Bild käme als die Ohren. Das Ergebnis war verschwommen und überbelichtet, es sah aus wie diese Kunstpostkarten, die auf Kneipentoiletten zum Mitnehmen bereitlagen.
    Für die CIA würde es trotzdem reichen, sagte sie herausfordernd, und er sagte: Die CIA macht bessere Fotos.
    Natürlich dachte er manchmal über sie nach. Er nahm an, dass ihre Ehe unglücklich war, obwohl sie nie etwas dergleichen erwähnte. Vielleicht war sie bloß schal geworden, die Ehe, über die Jahre. Sie liebte ihr Kind, er vergaß nie, sie danach zu fragen. Ihr Überschwang für das Kind ähnelte dem, den sie ihm entgegenbrachte. Eine wilde Liebe, die in seinem Fall in einem respektvollen Käfig blieb. Sie rüttelte durchaus manchmal daran. Sie hätten Zeit gebraucht, um herauszufinden, ob das spontane Gefühl irgendwohin trug. Aber sie hatten keine Zeit, nicht im Sinn von wenig, sondern im Sinn von null.
    Als er in Brüssel von ihr wegging, wärmte ihm ihre Empörung das Herz. Er hatte ihr förmlich die Hand geben müssen, weil in ihrem Rücken Menschen aufgetaucht waren, die ihn kannten.
    Es gibt manches, was du nicht weißt, was ich auch nicht erklären will, sagte er, ihre Hand in seiner, aber du kannst mir glauben, dass ich dir nichts verheimliche. Mir scheint nur jedes Wort darüber verschwendet, wenn ich dich sehe.
    Ich glaube manchmal, du bist vollkommen paranoid, zischte sie. Es hatte sich eingebürgert, dass sie ihm ihre Zuneigung vor allem als Verdruss verkleidet zeigte. Sie warb, aber kam nicht weiter, er

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