Quasikristalle: Roman (German Edition)
hier war, fanden erst am nächsten Tag statt.
Wohnst du in London, fragte sie.
Es ist zumindest der Ort, an dem ich die größte Anzahl von Tagen im Jahr bin.
Hast du Kinder, fragte er.
Eins.
Nur eins?
Ich hätte sehr gern mehrere gehabt. Aber.
Aber?
Fehlgeburten.
Das tut mir leid.
Ich spreche nicht gern darüber, sagte sie, es ist doch absurd, dass einem auch die Ungeborenen fehlen.
Es ist nicht absurd, sagte er, ich sehne mich täglich nach meinen Enkeln.
Schummrig und verschachtelt, dazu getränkt von einem skurrilen, irgendwie anarchischen Humor – das Museum des John Soane passte Nelson an diesem Vormittag wie ein bequemer, alter Anzug. Sie waren meistens allein, er und die Frau aus dem Berliner Bus, die seine Tochter hätte sein können, und die selbst, ebenso knapp gerechnet, Enkel hätte haben können, in einem anderen, früheren Leben, zum Beispiel im Mittelalter. Sie war ihm vor die Füße gefallen wie Planetenstaub, und schon war sie ihm lieb und nah, ohne dass er das Ende dieses Zusammenseins gefürchtet hätte. Das beste Leben ist das gegenwärtige; aber meistens kommt einem die Gegenwart blass vor, sodass man fruchtlos und ermüdend an Vergangenheit und Zukunft herumzupft. Wenn die Gegenwart jedoch aufglüht, dann sollte man sich ihr überlassen, dachte Nelson. Das zumindest könnte man von sich verlangen; ohne Neben-und Hintergedanken.
Sie wanderten herum, in vor Fremdheit knisternder Eintracht, zwischen den Gemmen und Götzen, den Gemälden, Sarkophagen und Katzenmumien, mit denen dieser Soane seine Privatgemächer vollgestopft hatte. Eine falsche Krypta, eine gotische Klosterruine im Hinterhof, davor ein zierlicher Grabstein für den Lieblingshund von Soanes Frau: ›Alas, poor Fanny‹. Ein Tisch mit einem Totenkopf, eine Apoll-Statue, ein Abguss aus dem Vatikan, aus dessen Sockel sich eine Schreibtischplatte ziehen ließ, an der Soane gern gearbeitet haben sollte. Im eigenen Haus alle Möglichkeiten von Museumsarchitektur durchspielen zu wollen, was für eine Idee. Hier eine Kuppel, da eine Miniatur von Säulenhalle, und ständig die eigenen Studenten im Wohnzimmer. Heute allerdings machten die Menschen viel privatere Dinge zu Anschauungsobjekten für … was eigentlich? Nelson lehnte Kulturpessimismus ab wie alles, was er für reflexhaft hielt, aber es war leider nicht zu leugnen, dass auch sein intellektuelles Immunsystem im Alter schwächer wurde.
Seine Begleiterin bewunderte vor allem Soanes Spiel mit Licht und Schatten. Sie bemerkte jeden Lichtstrahl, sie verfolgte ihn zurück zu seinem Ursprung, zu einem Oberlicht, einem Durchbruch, irgendeinem von Soanes hunderten Spiegeln.
Er hat mit gerichtetem Licht gearbeitet, bevor es Scheinwerfer gab, stellte sie fest und setzte sich auf die Stufen, die hinunter in die Krypta führten, das ist beeindruckend.
So dachte er später meistens an sie; wie sie im gedämpften Licht auf den Stufen saß und über John Soane staunte, wie sie über ihn, Nelson, lachte, als er unten an die Glasscheibe der Mönchszelle klopfte und mit Kindermonsterstimme rief: Komm heraus, Padre Giovanni! Nelson wusste, dass die Zelle keine Tür hatte, ein toter Raum war, eine weitere Inszenierung. Doch zum Spaß ließ er Xane suchen, nach der Tür, dem Zugang. Sie war sofort eifrig dabei. Erst blieb sie auf den Stufen sitzen und sah sich um, sie suchte also zuerst mit dem Kopf. Sie fragte ihn, ob er glaube, dass sie den Wandteppich hochheben dürfe, oder ob ein Alarm losgehen würde. Er hob lächelnd die Schultern, er hätte den Alarm riskiert, um sie länger beim Schlausein betrachten zu dürfen. Leider kam ein Angestellter herunter und fragte, ob er helfen könne. Wir suchen die Tür zu der Mönchszelle da, sagte Xane und grinste Nelson ins Gesicht, als wäre das ein erlaubter Spielzug. Es gibt keine Tür, erklärte der Angestellte und zeigte ihnen die Stelle, wo das letzte Stückchen Mauer geschlossen worden war, nachdem Soane den winzigen Raum als karge Zelle dekoriert hatte.
Ich habe ein lösbares Rätsel erwartet, kein unlösbares, sagte sie enttäuscht.
Ist ›keine Tür‹ nicht auch eine Lösung?
Nein. Du hast gefragt, wo ist die Tür, nicht, ob es eine gibt, und wenn ja, wo. Das ist ein Unterschied! Gibst du das nicht zu?
Ich gebe alles zu.
Du gibst alles zu? Versprich nicht zu viel!
Was willst du wissen?
Ach – nichts.
Als es für sie Zeit wurde, zu gehen, fragte sie ihn, ob er nicht mitkommen wolle. Es seien alte Freunde, er würde sie mögen,
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