Quasikristalle: Roman (German Edition)
doch Nelson lehnte ab. Er wollte kein Publikum, er wollte keine Rolle spielen müssen, er hätte nicht gewusst, welche. Er wollte sie für sich. Er lernte ohnehin nur ungern Menschen kennen, neben all denen, die er alltäglich kennenlernen musste. Er sagte nichts davon. Er sagte: Nein, danke, ich werde nach Hause gehen. Sie schauten sich an, draußen im Licht, und wussten nicht, wie sie sich verabschieden sollten. Er fragte nach ihrer Telefonnummer. Sie gab sie ihm, fast erleichtert, sie schrieb sie auf die Eintrittskarte des Museums und borgte sich dafür seine Handfläche als Unterlage aus.
Ruf mich an, sagte sie, egal, wann, ich würde mich sehr freuen.
Ich werde mich melden, versprach er, sie umklammerte seine Hand von unten, wie einen Teller, und drückte von oben die Kante ihrer Schreibhand darauf. Er hielt die Karte, hielt die Hand flach, bemühte sich um Ruhe. Danach umarmten sie sich kurz.
Weißt du, Xane, ich mag dich wirklich, sagte Nelson, bevor er sich umdrehte und ging.
Am Anfang des Sommers wurde Oberst R. verraten, gefasst und nach Den Haag ausgeliefert. Er trug keinen Bart wie damals Sadam Hussein, und er hatte aus keinem Erdloch gezogen werden müssen, er sah aus wie früher, nur feister. Wunden brachen auf, alte und neue, selbst in Nelson fanden sich noch Stellen, die schorfig wurden. Er musste viel telefonieren, rund um die Welt, mit Müttern und Witwen, mit verwaisten Menschen wie ihm selbst. Zeugen wurden gesucht und gefunden, nicht nur von den Anklägern, vor allem von den Medien. Ihre Geschichten in den internationalen Zeitungen waren nicht zu übersehen, und nicht die blutigen Schlagzeilen, mit denen man diese Geschichten versah. Am wenigsten zu übersehen war das Foto dieses Mannes, dem Nelson nie selbst begegnet war. Es schien nur ein einziges zu geben, das klein und groß, schwarz-weiß und bunt gedruckt und gesendet wurde. Die Eintönigkeit der immergleichen Aufnahme war eine Qual für sich.
Wenn die Anzahl von Nelsons Verpflichtungen schädlich und er über die dummen Fragen und politischen Widerstände bitter wurde, erinnerte er sich an die ersten Jahre. Er und die paar anderen waren über die Kontinente gewankt wie versengte Tiere ohne Zunge. Nicht, dass man ihnen nicht geglaubt hätte, das wäre ja bereits ein zweiter Schritt, eine Reaktion gewesen. Nein, es hatte so unerträglich lange gedauert, bis man sie überhaupt hörte und verstand.
Die Zeit, die verstreicht, ohne dass auf etwas Ungeheuerliches geantwortet wird, kann Menschen in den Selbstmord treiben. Wenn es ein Urvertrauen gibt, gibt es vielleicht auch ein Weltvertrauen, das nicht zerstört werden darf. Das hatte er in den frühen Jahren oft gesagt. Den Teil mit dem Selbstmord ließ er inzwischen weg, weil er den Zusammenhang für ungünstig hielt. Wer etwas will, muss lästig sein. Das eigene Verschwinden ist keine Drohung.
Einige aus der Versengtengruppe hatten sich umgebracht. Nelson erinnerte öffentlich mit ebensolchem Nachdruck an sie wie an die grabsteinlosen Opfer. Aber er selbst musste vital wirken, unverdrängbar. Das war er dem Teufel schuldig, der ihm wieder öfter in den Kragen hauchte, seit R. hohngrinsend in Haft saß, am liebsten im Schlaf.
Manchmal rief er die Frau in Berlin an. Das erste Mal rief er an, als er eines Morgens auf einen Hotelbalkon trat und unter ihm ein Blumenmeer wogte. Einen Moment lang war alles um ihn Farbe und Duft. Er atmete ein, ging zurück, zerrte das Telefon am langen Kabel heraus und sprach mit ihr, den Blick nach unten gerichtet, bis die einzelnen Blüten verschwammen.
Es war schön, deine Stimme zu hören, du klingst vergnügt, sagte er.
Wahrscheinlich, weil du angerufen hast. – Nelson?
Ja?
Wie kann ich dich erreichen?
Du kannst meiner Agentur mailen. Vivian Rear. Sie wissen immer, wo ich stecke, und ich rufe dich zurück.
Deine Handynummer gibst du mir nicht?
Ich … muss darüber nachdenken.
Ein anderes Mal rief er im Frühherbst an, als er nach langer Zeit ein freies Wochenende hatte. Er war bei Vivian und ihrer Familie zu Besuch, er hatte gelegentlich sieben Stunden am Stück geschlafen und war täglich schwimmen gewesen. Sein eigener Körper schien ihm wieder fest umgrenzt, von einem Schwerpunkt aus kontrollierbar, kein schwammiges Gebilde mit pochenden Rändern. Der Prozessauftakt kam näher, und es gelang ihm, die Nachtbilder zu verdrängen, ruhiger zu werden, gepanzert. Wahrscheinlich warf sein Kopf die letzten Reserven in die Schlacht.
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