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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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für Donnerstag einen Flug zu buchen.
    Auf dem Hinweg, als er sich noch für einen Helden der Freundschaft hielt, rief er Xane an.
    Ich steige gleich in die U7 Richtung Rudow, sagte er ohne Begrüßung, eine hinreißende Frau hat mir einmal den Weg gezeigt.
    Sie freute sich, aber sie klang aufgeraut. Ihr Kind sei krank gewesen, mehrere Wochen lang, jetzt sei es noch schwach, aber auf dem Wege der Besserung. Im Hintergrund hörte Nelson es rufen. Er sagte ihr, dass er zwei Tage bleibe; ob sie irgendwann ein bisschen Zeit habe? Sie vereinbarten ein Mittagessen am nächsten Tag, sie würde ihn vom Hotel abholen.
    Er ging durch die Vorstadt, die an manchen Stellen wirkte, als hätte sich ein Spießer als Nutte verkleidet oder umgekehrt. Beim letzten Mal hatte ihm sein Freund dazu eine Theorie serviert: Dieser südöstliche Rand Westberlins sei psychisch – auch architektonisch – genauso depressiv-eintönig wie der frühere Ostteil, habe das aber durch einen Überschuss an Neonreklamen angestrengt vergessen machen wollen. Alles blinkte, dazwischen brach es grau hervor. Sein Freund hatte behauptet, für ihn sei es der perfekte Rückzugsort. Die Vorteile der Großstadt und des Dorfes vereint, dazu diese knarzigen Menschen, die einen in Ruhe ließen. Er bewohnte ein einstöckiges Mehrfamilienhaus aus den Dreißigerjahren, der schmale Garten rundum genauso, wie es das Klischee über die Deutschen wollte: keine Blumen, sondern Bodendecker, keine Obst-, sondern Weihnachtsbäume. Drinnen aber war es überraschend licht, wie frisch lackiert.
    Nelson war mit diesem Freund aufgewachsen. In einer seiner frühesten Erinnerungen reparierten sie zusammen einen Tretroller, der keinem von beiden gehörte. Warum sie das taten, ob sie einen Schaden verschuldet hatten – Nelson wusste es nicht mehr. Auch ihre Frauen waren Freundinnen gewesen. Als er das letzte Mal zu Besuch war, hatte Nelson ein Foto bemerkt, auf dem die Frauen Mädchen waren, vergnügt aneinandergelehnt. Er hatte sich so gesetzt, dass er das Bild im Rücken hatte, und seinem Freund von dieser vermeintlichen Deutschen erzählt, die ihn so freundlich zur U-Bahn gebracht hatte.
    Diesmal standen Polizei, Notarzt und ein Leichenwagen in der Straße. Nelson blieb trotzdem nicht stehen, er ging entschlossen auf das Haustor zu, als würde solcher Mut belohnt. Er kam bis zur Wohnungstür seines Freundes, die offen stand. Dort wurde er aufgehalten, von einer Nachbarin als früherer Besucher erkannt, in Gespräche verwickelt, die an der Sprache scheiterten. Von irgendwoher wurde ein Student geholt, der leidlich Englisch sprach. Der Polizist wollte keinerlei Auskünfte geben, sondern nur Fragen stellen. Der Student war so freundlich, ihm anschließend zu erzählen, was die Nachbarn sagten, obwohl es so gut wie nichts war. Er sei krank gewesen, Nelsons Freund, behauptete die Nachbarin, sehr krank, obwohl er alles noch selbst habe erledigen können. Als er zwei Tage lang nicht gesehen worden sei und die Tür trotz Klingelns nicht geöffnet habe, habe sie sofort Hilfe geholt. In der Wohnung seien seither nur die Polizisten und die Rettungskräfte gewesen, und die hätten nichts gesagt. Nelson fragte, ob ein Selbstmord denkbar sei. Als der Student übersetzte, schlug sich die Frau die Hand vor den Mund. Diese Frau hatte seinen alten Freund täglich gesehen, im Gegensatz zu ihm. Er hinterließ die Adresse seines Hotels und Vivians Karte.
    Als er sich in die Richtung wandte, aus der er gekommen war, lag die Straße, standen die Ziertannen genauso trotzig da wie vorhin. Wenn man den Leichenwagen im Rücken hatte.
    Von den folgenden achtzehn Stunden wusste er nicht viel. Er hatte sich Essen aufs Zimmer bestellt und ferngesehen, wohl auch geschlafen. Am nächsten Morgen stand er wie gewohnt auf, wusch und rasierte sich, zog sich an, legte sich anschließend aber wieder aufs Bett. Die Zimmerdecke war beige und hellgelb gestreift, am Sprinkler tanzte ein Staubfaden hin und her. Er schlief ein. Irgendwann läutete das Telefon, und Xane wurde gemeldet. Er sagte, ich komme sofort, aber noch bevor der Concierge den Hörer auflegte, änderte er seine Meinung und verlangte, sie zu sprechen. Er bat sie, heraufzukommen, und nannte ihr die Zimmernummer. Danke, sagte er, als sie zögernd hereinkam, danke, er zog sie ins Zimmer und verriegelte die Tür. Er schob einen Sessel nahe an sein Bett und setzte sie hinein. Als er die Hände von ihren Schultern nahm, stand sie wieder auf und zog den Mantel aus.

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