Quasikristalle: Roman (German Edition)
hielt sie auf Armeslänge Abstand. Als Wütende bewahrte sie ihre Souveränität. Wütend war sie keine Bittstellerin, sondern jemand, dem man seinen Anteil verwehrte.
Nelson verstand das genau, und ihr Temperament zog ihn ungemein an, solange sie zusammen waren oder er mit ihr telefonierte. Die Erinnerung an sie behandelte er vorsichtig und holte sie nur selten hervor. Jetzt trug er wieder sein regloses Lächeln im Gesicht, die Außenhaut, die undurchsichtige, nickte noch einmal und ging, aufrecht, schmal, unauffällig.
Ich habe lange nichts von dir gehört, sagte sie.
Hör zu, Xane, wenn dir meine Anrufe eine Last werden, oder es quälend wird, weil du darauf wartest…
Falls ich warte, ist das meine Sache.
Ich will nur, dass es dir gut geht.
Dann ruf mich öfter an.
Gerade das kann ich nicht.
Was heißt das, du kannst nicht?
Ich kann nicht, und es wäre nicht gut.
You’re the boss after all, aren’t you?
Drei Wochen nach Prozessbeginn erlitt Nelson einen zweiten Schwächeanfall. Schlecht daran war, dass es im Gerichtsgebäude geschah, gut, dass er wenigstens aus dem Saal hinaus war. Der Oberst war längst weit weg, in seiner Zelle. Trotzdem wurde es an die große Glocke gehängt, vor allem wegen einer Platzwunde an der Stirn, die lächerlich spritzte. Diesen Journalisten fiel jedes Detail wie von Zauberhand in den vorgefertigten Bezugsrahmen. Es war schlicht undenkbar, dass jemand bloß wegen der Wetterlage, schlechter Luft oder seiner Hypotonie schwächelte. Nein, es musste schon der Anblick der Bestie sein!
Vivian empfing Genesungswünsche aus der ganzen Welt, von Regierungen, Botschaftern, Organisationen. Er saß im Bett, im Rücken zwei Kissen, und ertrug zum ersten Mal nicht einmal sie. Bitte geh, sagte er und sprach sehr leise, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, ich muss nachdenken.
Am übernächsten Tag stand er auf und ging ins Gericht, unberührbar zwischen den Kameras und Mikrofonen durch. Ein Stück des dicken Pflasters ragte über die Augenbraue in sein Gesichtsfeld, damit er es bloß nicht vergaß.
Er saß und ließ die zähe Zeit durch sich hindurchgehen. Gutachter, Zeugen, Pathologen zogen an ihm vorbei, Befehlsketten wurden aufgerollt und angezweifelt, Erinnerungen zerpflückt. Vor Jahren hatte Nelson einen Aufsatz gelesen, der, wiewohl moralisch zerquält, dem Tyrannenmord, dem Standgericht zumindest eine systematische Berechtigung zubilligen wollte. Das Argument war die Verhältnismäßigkeit der Zeit gewesen. Setze Menschen unter Zeitdruck, und du bringst sie zu fast allem: Massaker, Pogrome, Lynchjustiz, das alles geht vor allem – schnell. Ein paar Stunden, ein paar Tage, ein paar Wochen, wen ich nicht gleich umbringe, der bleibt womöglich am Leben. Aber diese Eruptionen soll man anschließend so detailliert untersuchen wie die vollständigen Flugbahnen aller Einzelteile einer Granate? Man bräuchte die millionenfache Zeit dafür, und selbst wenn man sie hätte, verfälschte ihr Vergehen die Wahrheit in einem tieferen Sinn. Der Scherge weiß es selbst nicht mehr, bei all dem Adrenalin, das in ihm pochte, aber der Zeuge muss es wissen, wer zuerst umgebracht wurde, das Kleinkind oder die Großmutter. Und er muss beweisen, dass er das aus seinem Versteck so genau sehen konnte.
Nelson verschob alles, was von ihm verlangt wurde, auf danach . Vivian sammelte die Anfragen. Er konnte nichts entscheiden oder zusagen. Er ging ins Gericht, danach legte er sich ins Bett und schaute an die Decke. Zwischendurch zwang ihn Vivian zu Mahlzeiten, die er absolvierte wie Arztbesuche. Er steckte in einem Tunnel aus gleichförmiger Zeit. Das war keineswegs unangenehm. Draußen war es ihm zu hell.
Als eine weitere Woche anbrach, legte Vivian ihm während des Frühstücks trotzdem zwei Blätter hin, Nachrichten aus der Außenwelt. Zumindest das erste, bat sie, da nahm er beide. Das Erste war von seinem alten Freund. Er hatte sich geweigert, nach Den Haag zu kommen, er hatte angekündigt, keine Zeitungen zu lesen und eventuell sogar den Fernseher aus dem Fenster zu werfen, Nelson solle ihn aber anschließend besuchen und berichten, wie es gewesen sei. Jetzt schrieb er: Kannst du kommen? Ich halte wahrscheinlich nicht mehr lange durch.
Das Zweite war eine Nachricht von Xane, der es gelang, ihre Mail formell und dennoch persönlich klingen zu lassen: Wenn Sie ihm bitte nur mitteilen könnten, dass ich mich gemeldet habe. Er kann mich jederzeit anrufen, ich wäre sehr dankbar.
Er bat Vivian,
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