Quasikristalle: Roman (German Edition)
ich habe sie mir oft gestellt. Aber so, wie du es formulierst, klingt es aktiv. Es ist aber passiv. Es passiert, so oder so. Manche lassen früher los, andere nie. Ich glaube, darum kann man sich nicht bemühen.
Wenn er so mit ihr sprach, schien sie die Situation zu vergessen, in der sie waren. Es war offenkundig besser, wenn sie sie vergaß. Sie schaute ihn versonnen an, beinahe gläubig. Er hatte schon früher bemerkt, dass ihn das, was geschehen war, von den anderen Menschen glatt abtrennte, nicht nur aus seiner, sondern auch aus deren Sicht. Er war der Gezeichnete, dem man aus frommem Glauben an eine bannende Wirkung zuhörte, sobald er zu sprechen begann. Das war gefährlich, es war verführerisch und obszön. Für Xane stimmte das noch am wenigsten. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er mit seiner Frau glücklich gewesen sei. Natürlich durfte man Fragen stellen, die keine Rücksicht darauf nahmen, ob einer lebte oder tot war. Man sollte sie vielmehr genauso stellen, als ob alle noch lebten. Dann hatten die Toten zumindest theoretisch noch einmal die gleichen Rechte.
Beantwortet hatte er die Frage aber nicht, weil er gedanklich nicht mehr hinter den Blutfleck an der Hausmauer zurückkonnte. Das war wie ein Naturgesetz. Alles, was einmal klar gewesen war, war mit diesem Fleck verkleistert. Wenn er sich um Erinnerungen bemühte, tastete er sich bloß an etwas Dunkles, Nebliges heran, was unheimlich war. Als müsste er mit verbundenen Augen in einen Schacht springen.
Er hielt ihr Handgelenk fest. Xane schaute ihn an. Er beschloss, sie weiter zu küssen. Dafür waren sie doch da. Sie war in sein Zimmer gekommen. Sie hatte immer schon in sein Zimmer kommen wollen. Jetzt brauchte er sie. Jetzt hatte sich, unwahrscheinlich genug, die Wirklichkeit geöffnet und einen Spalt gelassen, ein Stück Parallelwelt. Er war gar nicht richtig da, und sie auch nicht, vor wenigen Tagen schien es noch gewiss, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht am selben Ort wären. Jetzt waren sie es dennoch. Daher konnten sie alles tun, wonach ihnen war. Es war nicht justiziabel. War ihr das nicht klar?
Sie küsste ihn höflich, als wäre Küssen eine exzentrische Verzierung des normalen Umgangs, nicht der zarte Beginn von etwas Überwältigendem. Sie setzte ab, blieb aber an seinem Mund und flüsterte: Nelson, und was ist mit deinem Auge passiert?
Auge? Wieso? Was ist damit?
Dein rechtes Auge hat plötzlich eine andere Farbe!
Nein, natürlich musste man nicht miteinander schlafen, nur, weil es zufällig Gelegenheit dazu gab. Es war bestimmt auch seltsam, dass Geschlechtsverkehr als Ultima Ratio des menschlichen Miteinanders angesehen wurde, wobei Ratio das falsche Wort war. Er verstand schon. Als höchstes oder tiefstes Ziel. Ein Orgasmus ist großartig, aber dafür, wie kurz das dauert, wird vielleicht zu viel Aufhebens darum gemacht?
Dass es eine Mutprobe war – springt man oder springt man nicht –, hatte Nelson noch nie so empfunden, aber bitte, aus weiblicher Sicht… Dass es entsetzlich peinlich war, sich wissentlich so nah an die Absprungkante zu begeben und dann doch nicht zu springen, nur zu schauen, ob dahinter wirklich der Abgrund an verbotenen Möglichkeiten war, versuchte er ihr auszureden, mit kleinen, sehr zärtlichen Küssen hinter die Ohren, wo es angenehm roch. Immerhin lagen sie inzwischen umschlungen auf seinem Bett. Allerdings mit viel Stoff dazwischen.
Natürlich war es etwas anderes, wenn man jemanden betrog. Es änderte bestimmt etwas, wenn man nachher nach Hause ging und dem anderen ins Gesicht schaute, beziehungsweise nicht mehr wusste, wie man schauen sollte. Er stimmte auch zu, dass Menschen hochkomplexe Wesen seien, die sich auf so viel geheimnisvollere Weisen näherkommen konnten als über den ritualisierten Abruf von Körperzuständen. Er fand allerdings, dass sie hier zu sauber trennte. Banaler Abruf von Reizen mit irgendwem, nur um der Reize willen – geschenkt. Aber in komplexen Beziehungen wurde doch auch der Sex komplexer, das, was er sein und, na ja, transzendieren konnte. Aber das sagte er nicht, denn der geringste Widerspruch hätte hier zu emotionalen Zerrüttungen führen können. Schon seine Verblüffung darüber, dass sie seine verschiedenfarbigen Augen niemals bemerkt haben wollte, hatte ja diese Geständnislawine ausgelöst.
Nelson lächelte in ihre Haare hinein. Sie hatte Angst. Sie hatte nicht damit gerechnet, sie hatte die türlose Mönchszelle damals für einen eleganten Hinweis gehalten,
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