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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Er setzte sich auf sein Bett, das er eilig mit der Tagesdecke bedeckt hatte. Er rückte an den Rand, ihr entgegen, und umfasste ihre Handgelenke mit Daumen und Zeigefinger.
    Endlich, sagte er.
    Du siehst grauenvoll aus, sagte sie.
    Wie charmant.
    Das ist kein Witz, du siehst aus, dass man erschrecken könnte.
    Erschrecke ich dich?
    Ich bin nicht sicher.
    Sie erzählte von ihrem Kind, von der Krankheit, die es gehabt habe, dass es jetzt sehr dünn sei, aber wahrscheinlich viel gescheiter. Die Kinder werden krank, aber danach haben sie jedes Mal einen geistigen Sprung gemacht, das sei faszinierend. Nelson erwiderte, diese Fähigkeit nehme im Alter nicht nur ab, sondern verkehre sich ins Gegenteil. Es wäre interessant, die Krankheit zu kennen, die die letzte gewesen sei, bei der man klüger geworden sei. Den Scheitelpunkt. Noch während man sie habe, oder erst Jahre später, im Rückblick, wollte Xane wissen, und er drehte die Handflächen nach außen.
    Und du? Was ist mit dir, fragte sie, sie habe es in der Zeitung gelesen, sie deutete auf seine Stirn.
    Du willst nicht darüber reden?
    Es gibt nichts zu sagen, mir fällt nichts mehr ein, sie werden ihn verurteilen, aber juristisch wird es an einem seidenen Faden hängen, und das stärkt die Position dieses Gerichtes nicht gerade. Ein Kompromiss. Für die einen zu viel, für die anderen zu wenig.
    Warum bist du eigentlich da, fragte sie.
    Ich musste dich sehen, sagte er.
    Nelson!
    Okay. Ich musste meinen Freund besuchen, da draußen, du weißt schon. Er wollte mich unbedingt sehen.
    Und? Alles in Ordnung mit ihm?
    Danke, ja, so weit.
    Als er sich zu ihr beugte, an ihrem Gesicht blieb und mit seinen Lippen ihre befühlte, zuckte sie nicht zurück. Aber sie blieb still, wie erschrocken, sie kam ihm nicht entgegen. Wer hatte denn gesagt, dass es so gehen müsste wie mit Vivian? Sie hatte es gesagt, ohne Worte, all die Monate, seit sie sich kannten. Zumindest hatte er es so verstanden.
    In letzter Zeit, wenn er mit Vivian schlief, hatte er manchmal an Xane gedacht, an ihre Augen, wie sie Fratzen zog, um ihm zu zeigen, wo sie überall Falten hatte, beziehungsweise, wo sie sich liften lassen müsste, um jünger auszusehen. Es war einerseits rührend, wie sie über das Altwerden klagte, als wollte sie ihm auf diese Weise näherkommen und womöglich einen Teil der Jahre vergessen machen, die zwischen ihnen lagen. Andererseits legte es offen, wie sie über ihn dachte. Dabei fühlte Nelson sich nicht alt. Wer etwas Wichtiges zu erledigen hat, kann sich nicht allzu alt fühlen. Und wer seinen Toten nahebleiben will, der muss sich länger in dem Alter wähnen, in dem er sie verlor. Also schwamm er innerlich gegen den Strom der Zeit, und es kam ihm gar nicht sinnlos vor.
    Die Frau schob ihn vorsichtig weg, nur eine Handbreit. Einen Moment lang war er überrascht, dass es Xane war und nicht Vivian. Seine Hände und Lippen hatten das Vivian-Programm begonnen, obwohl hier die echte Xane saß. Das war peinlich, und unmöglich zu erklären. Es ist kein Kompliment, einen Liebesakt schon mit einem Platzhalter durchgespielt zu haben, sodass der Sinn für den wahren und einzigartigen ersten Moment verloren geht.
    Sie sah ihn unerforschlich an und bat um etwas zu trinken. Kaffee oder etwas Kaltes, fragte Nelson, und ob sie lieber hinunter ins Restaurant gehen wolle. Sie zögerte.
    Wir können hierbleiben, sagte sie.
    Nelson bestellte telefonisch Kaffee, sie setzten sich zurecht, sie warteten, dass die Getränke gebracht wurden. Er fragte nach ihrer Arbeit, das war wenigstens ein Thema.
    Als sie ihren Kaffee getrunken hatte, trank sie das Wasser. Danach griff sie nach einem kleinen verpackten Keks, packte ihn aus und aß ihn. Er bot ihr seinen an, sie nahm ihn. Sie drehte ihn zwischen den Fingern, sie spielte damit, anstatt ihn zu essen. Einmal ging sie zur Toilette, zweimal kontrollierte sie ihr Mobiltelefon.
    Schließlich zog Nelson den Tisch, der zwischen ihnen stand, zur Seite und streckte die Hand nach ihr aus.
    Nelson, ich möchte dich etwas fragen.
    Hm?
    Hast du jemals darüber nachgedacht, abzuschließen? Ich meine, das Vergangene vergangen sein zu lassen? Wir Menschen vergessen alle, früher oder später, aber vielleicht muss man das zulassen, als einen natürlichen Prozess?
    Du meinst, ich soll die Toten in Ruhe lassen und nicht dauernd den Deckel heben und nachschauen, ob sie noch tot sind?
    Entschuldige. Es ist wohl die falsche Frage.
    Gar nicht, Xane, es ist eine gute Frage. Und

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