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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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fürsorglich, golemhaft unaufmerksam, aber langweilig? Nie. Natürlich kennen wir die obligatorischen Beziehungs-Zahnpastatuben, auch wenn es bei uns Mors benutzte Kaffeelöffel sind, die in der ganzen Wohnung, auf allen nur denkbaren Oberflächen abgelegt werden. Ich dagegen falte Pappkartons nicht zusammen, bevor ich sie in die Altpapierkiste lege, sondern steige in jene Kiste, wenn sie zu voll wird. Das macht Mor wahnsinnig.
    Wir haben Eigenschaften in die Beziehung mitgebracht, die wir aneinander weiterhin fremd und seltsam finden werden. Wir haben in der Beziehung Eigenschaften erst entwickelt, die den anderen tödlich nerven. Aber unser Grundverhältnis zur Welt ist ein ähnliches. Wir mögen dieselben Menschen, und wir lehnen andere aus ähnlichen Gründen ab. Wir sind ehrgeizig und wollen unsere Sache gut machen, egal, ob die Sache gerade Beruf, Kindererziehung, Selbstbeherrschung oder Zubereitung eines mehrgängigen Abendessens heißt. Wir amüsieren oder ärgern uns meistens über dieselben Dinge. Mor bringt mich oft zum Lachen, das ist eine seiner besten Eigenschaften und ein besonderes Talent. Was Humor betrifft, bin ich anspruchsvoll. Denn dümmliche Witzler gab es in meinem ersten Leben, dem österreichischen, wahrlich genug.
    Er sieht immer noch gut aus, auch wenn er dicker und grau geworden ist. Er ist ein hinreißender Vater, gerade, weil er Unsicherheit und Kränkung auch Kindern gegenüber schlecht verbergen kann. Ich eigne mich besser zum Gefängniswärter, zum Stasi-Verhörer mit Pokerface. Andererseits bin ich es, die funkenschlagend ausflippt, um den Kindern klarzumachen, dass auch Eltern Menschen sind und keine verdammten Verständnis-Roboter. Mor hat mehr Mitte, ich habe mehr Extreme, auf der positiven Seite sind das Mütterlichkeit, Verwöhntalent. Wir sind ein gutes Team.
    Es geht uns gut. Die Lebensmitte ist sicher und berechenbar wie eine ungestaffelte Warmmiete. Befristet ist sie, klar, aber für wie lange? Da kann man nur hoffen. Meine Eltern und Mors Mutter sind noch am Leben, auch wenn ihnen das brutale Alter schon ein paar unbedeutendere Fähigkeiten weggeschossen hat. Gepflegt werden muss keiner, dafür haben wir ohnehin erst Zeit, wenn die Kinder aus dem Haus sind.
    Und trotzdem genügt das alles manchmal nicht. Trotzdem wird jedes Paradies irgendwann zum Käfig. Das liegt dem Menschen im Blut. Irgendein Zweifel fällt ein, ein Schatten, es gibt eine minimale Verschiebung des Lichts. Und dann werden wir krank und unvernünftig, wir wollen uns häuten. Hier, vor mir, sitzt wieder eine Infizierte, die für eine Weile fiebriger ist als wir anderen. Ich war auch schon infiziert, mehrmals leicht, aber es ging immer verlässlich vorbei. Wenn es eines Tages nicht vorbeigehen sollte, hätte man ein Problem. Davor fürchte ich mich unsagbar, gleichzeitig soll es bitte eine reelle Möglichkeit bleiben. Dass eines Tages doch noch etwas geschieht, das stärker ist als man selbst, etwas, das man weder wegdiskutieren, noch aussitzen, noch auslassen kann.
    Meine Freundin Krystyna hat sich verliebt, nach dreizehn Jahren Ehe zum ersten Mal. Das schwört sie, beides. Ihre Augen und Haare glänzen, die Männer drehen sich wieder nach ihr um; wir alle glaubten ja von uns, das sei für immer vorbei. Als sie auf mich zuschwebte im kurzen Rock, habe ich überlegt, ob sie noch einmal schwanger sein könnte, in ihrem Alter. Das hätte mir einen Stich gegeben, denn sie hat schon zwei Kinder, eines mehr als ich. Ein Baby ist es nicht, sondern ein Mann. Es gelingt mir problemlos, alle Gedanken an Richard, mit dem ich länger befreundet bin als mit ihr, wegzuschieben und mich auf ihre Geschichte einzulassen, als wäre sie ein Roman.
    Sie bedeckt mit den Händen Augen und Mund, während sie erzählt. Ein seltenes Phänomen, bekannt aus Extremsituationen: Dass das Gesicht seine Funktion als Schirm und Schleuse der Seele nicht mehr erfüllt und stattdessen bleckt wie eine Wunde. Oder wie die Geschlechtsorgane, wenn sie dem Arzt gezeigt werden müssen.
    Zwischendurch schaut sie sich um, ob uns niemand belauscht. Dabei ist der edle Asiate am mittleren Nachmittag so gut wie leer. Ich habe kaltes, mariniertes Rindfleisch gegessen, sie wollte nur eine Suppe, sie bringt derzeit nichts runter. Wie mit siebzehn, flüstert sie, die Röhrenjeans passen wieder, nach so vielen Jahren, und wir lachen beide, in spitzen Tönen, für die wir andere Frauen in bestimmte, verächtliche Schubladen stecken würden.
    Nächste Woche

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