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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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verständigt, aber unabkömmlich. Der Arzt, der mir schließlich erklärt, dass die Untersuchungsergebnisse unauffällig waren, zieht mich, bereits an der Tür, noch einmal in den Raum zurück und bittet Emmy, draußen zu warten. Derart ungeschlacht, im Stehen, fragt er mich, ob das Kind depressiv sein könnte.
    Ich bin befremdet und versuche, den Ärger wegzudrücken. Es ist Mors Credo, dass heutzutage an Kindern viel weniger Normabweichung toleriert werde als früher. Wir hingegen wollen Eltern sein, die nicht bei jedem Problem nach dem Therapeuten rufen.
    Emmy war immer seltsam. Als Kleinkind frisierte sie stundenlang die pinke Mähne eines Plastikpferds. Als dieses furchtbare Tier eines Tages unauffindbar war, sprach sie so lange nicht, bis wir ein neues kauften.
    Sie weinte gelegentlich tonlos. Wenn sie wütend war, stieß sie, die sich an ihre Mutter kaum erinnern konnte, schrille Mama-Schreie aus, die Mor und mich quälten wie nichts sonst. Eine Zeitlang malte sie nur mit Grün, Hellgrün, Mittelgrün, Dunkelgrün, gelegentlich Türkis. Als Viola ihr einen roten Punkt mitten in ein solches Bild kleckste, goss sie ihr den Wasserbecher über den Schoß, zerbrach zwei Pinsel und fieberte in der folgenden Nacht.
    Aber das alles ist lange her. Sie ist zweifellos immer noch zu ruhig, aber intelligent, sie hat Freundinnen, und jene Lehrer, die schüchterne Kinder ertragen, mögen sie. Nur das sage ich dem Arzt, kühl, und gehe.
    Am Abend findet Mor eine E-Mail vor, die ihn am folgenden Tag zu Violas Klassenlehrerin bittet. Viola, dieses pubertäre Monster, hat angeblich nicht die geringste Ahnung, warum. Vielleicht findet sie dich geil, Papa, sagt sie und wirft mir einen Blick unter den violett getuschten Wimpern zu. Ich stehe auf, gehe in unser Schlafzimmer, lege mich auf das Bett und versuche, meine Aggressionen wegzuatmen. Ich denke daran, wie ich ihr zum Geburtstag die Käthe-Kruse-Puppe schenkte. Da war sie fünf, und charmant wie ein Kinderstar. Sie küsste mich zum Dank auf beide Ohren. Warum auf die Ohren, fragte ich sie. Damit du hörst, wie sehr ich mich freue.
    Ich habe mir diese Szene wahrscheinlich zu oft vorgestellt, denn sie ist abgenutzt. Zwischen damals und heute scheint ein großes Verbindungsstück zu fehlen. Die transitorischen Jahre. Heute spricht sie mich kaum noch direkt an, sondern wendet sich an Mor und sagt die da . Fehlt nur, dass sie mit dem Finger zeigt. Und ich kann sie ohnehin kaum anschauen, mit diesen Metallteilen in Nase und Zunge und den zugeschminkten Augen.
    Am nächsten Tag erscheinen wir, das aufgeschlossene, kooperative Elternpaar, gemeinsam bei der Lehrerin. Alle Lehrer unserer Töchter verströmen seit jeher ein wortloses, klebriges Mitleid. Kinder, die von der Mutter verlassen wurden, sind einfach schwer beschädigt, lautet der Subtext. Da kann man nichts machen. Da muss man mit allem rechnen. Dass diese Kinder seit vielen Jahren völlig andere Erfahrungen machen, fällt ihnen gar nicht auf. Monokausales Denken.
    Es gebe Hinweise darauf, dass die Clique, mit der Viola unterwegs sei, Haschisch konsumiere. Aus Mor platzt ein Haha wie ein Schuss, er entschuldigt sich sogleich.
    Die Lehrerin legt ein auf Papier ausgedrucktes, sehr verschwommenes Foto auf den Tisch. Mor und ich begreifen nicht, was es ist. Könnte das ihre Tochter sein, fragt sie.
    Vielleicht, sagt Mor.
    Sie hat so einen gelben Schal, sage ich.
    Alle haben gelbe Schals, sagt Mor.
    Senfgelb ist gerade modern, sage ich und versuche ein Lächeln, eine scheußliche Farbe.
    Das Gelbe im Hintergrund ist die Rückseite einer U-Bahn, sagt die Lehrerin. Sie nennen das U-Bahn-Running. Sie springen in die Gleisbetten und fotografieren einander. Es gibt immer wieder Tote.
    Auf dem Rückweg schweigen wir. Zu Hause machen wir uns Tee und beginnen ohne Einleitung zu streiten, ja, es scheint mir, als öffneten wir nur die Münder und brüllten sofort aufeinander ein. Es ist das alte Lied. Ich bin der Meinung, dass Viola von klein auf um Grenzen gebettelt hat und Mor immer zu weich mit ihr war. Ich weiß auch, warum: weil er erpressbar war. Weil er Angst hatte vor Oma Anke, die alles versuchte, um die Kinder ganz zu bekommen, die ihnen ungeniert eine Reise nach Indien, zur Mama, versprochen hat, für die man natürlich ein bisschen Zeit brauchte. Die euer Papa mir einfach nicht geben will, vielleicht könnt ihr ihn noch einmal lieb darum bitten. Und ähnliche Sauereien mehr. Diese Erpressbarkeit haben die Kinder natürlich

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