Quasikristalle: Roman (German Edition)
bewegen uns dabei nicht. Wenn er in meinen Träumen erscheint, bin ich gelassen und sicher, geborgen wie ein krankes Kind. Ich bin für nichts verantwortlich und nie mehr allein.
Ich kann über Einsamkeit eigentlich nicht klagen. Dauernd bin ich umgeben von einer lauten und anstrengenden Familie oder von den vielen Menschen, mit denen ich beruflich zu tun habe. Trotzdem fühle ich mich in letzter Zeit abgeschieden, als trüge ich eine Tarnkappe, die die Geräusche, vielleicht nur die Gefühle dämpft. Richtig weh ums Herz ist mir nur, wenn ich aus dem Traum mit dem unbekannten Mann erwache. Das geht zwar schnell vorbei; ich strecke den Arm aus, fühle, ob Mor da ist oder zumindest seine Kuhle noch warm. Aber ich frage mich, wie es jemandem geht, der ein lebendiges Ziel seiner Sehnsüchte hat und kein Glücksphantom.
Wie geht es Krystyna? Sie schreitet über den Teppich aus winzigen kostbaren Details, aus denen sich der Beginn jeder Liebesgeschichte webt. Sätze. Unerwartete Gesten. Ein kleines Geschenk. Eine Besonderheit in der Körperhaltung, eine Schrulligkeit, ein seltsames Hobby. Ein leichter Sprachfehler. Wir suchen nach dem Unverwechselbaren und knüpfen daraus den ersten gemeinsamen Grund. Zwar erinnere ich mich nur mit Mühe daran, aber ich weiß, am Anfang sind es unzählige solcher kleiner Knoten. Mor hat mir einmal in einem Hotel die Haare gewaschen. In einem anderen Hotel hat er mir in der Badewanne Rilke vorgelesen, wir haben Champagner getrunken und Rilke um Häuser kitschiger gefunden als uns selbst. Ich habe den Zettel mit Mors Telefonnummer noch jahrelang in meinem Portemonnaie aufbewahrt, genau wie später das blaue Namensbändchen, das mein Sohn im Kreißsaal bekam.
So etwas verbietet sich bei den geheimen Geschichten von selbst. Kein Klammern an physische Fetische. Als Geschenke nur Bücher und Postkarten, Mails sofort löschen, Kinokarten, Fahrkarten im öffentlichen Abfall deponieren, bloß nicht zu Hause. Hotelrechnungen in Fetzen reißen und im Klo runterspülen, am besten noch im Hotel. Jeden Hinweis entsorgen, einmal passt dieses neumodische Verb. Aber das alles ist mühevoll, würdelos.
Und selbst abseits vom Erwischtwerden fallen mir nur Verwicklungen ein, Befürchtungen, Komplikationen. Ein fremder Mann macht fremde Geräusche, trägt andere Unterhosen und ist im schlimmsten Fall genauso nervös wie man selbst. Erster Sex ist, bei Licht betrachtet, kompliziert und peinlich. Aber genau dieses Verstandeslicht wird vermieden, siehe Krystyna, ausgeknipst. Hotelzimmer sind peinlich. In einem burgenländischen Thermenhotel stehen womöglich Entenfamilien aus gebranntem Ton im Eingangsbereich. Die Zimmer strotzen vor geöltem Nussbaumholz. Zirbelstube. Ein herzliches Grüß Gott. Zum Frühstück gibt es Kellnerinnen im Dirndl und Gute-Laune-Müsli. Und da will Krystyna mit den Zähnen am Hosenbund eines fremden Mannes zerren?
Ich fühle mich alt und missgünstig. Ich fülle meine Rolle perfekt aus: Ich giere nach Krystynas Geschichte, nach jedem kitschigen oder erotischen Detail, aber nur als Konsumentin, nicht als Darstellerin. Zur Darstellerin fehlt mir nicht nur die Gelegenheit, sondern vor allem der Mut. Wie Comicfiguren winken meine Schuldgefühle von ihrer überfüllten Kopftribüne aus.
Mor und ich verachten Leute, die freudig Dinge sagen wie: In acht Jahren gehe ich in Rente. Jetzt bin ich schon selbst irgendwie so. Alles ist auf anstrengende Weise langweilig und auf langweilige Weise anstrengend. Doch ich bleibe still und trete weiter. Jeder Gedanke an Veränderung, jedes Schweifenlassen des Blickes scheint Lawinenpotenzial zu haben. Das Leben ist gleichzeitig festgefahren und fragil, ein Fahrzeug, das in einer steilen Kurve hängengeblieben ist.
Schuld ist unter anderem die Baby-Grenze, die ich fast unbemerkt überschritten habe. Irgendwann ist es binnenlogisch vorbei mit der Reproduktion, und zwar lange, bevor der Wechsel einsetzt. Sobald das einer Frau klar wird, packt sie eine zähe Traurigkeit, egal, ob sie ihr subjektives Kindersoll erfüllt, nicht erfüllt oder die Familiengründung komplett verpasst hat. Vorher war es so lange Zeit ein undeutliches, am Horizont schwebendes Zukunftsprojekt, für die allermeisten Frauen. Auch was man vor sich herschiebt, ist ja da, ist eine tier-und nebelhafte Programmierung, dieselbe, mit der man vom Wechsel der Jahreszeiten weiß. Wer ein Kind hat, ist auf das nächste eingestellt, wer zwei oder drei hat, versucht, durch das Chaos der
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