Quasikristalle: Roman (German Edition)
etwas eindringen kann, was man als Frischluft empfindet. Ich weiß bis heute nicht, was es war, das ich an Nelson so anziehend fand, vielleicht war es nur das andere. Das Verbotene. Denn eigentlich hatte er viel mit Mor gemeinsam, dass er älter war als ich, dass er mich mit amüsiertem Röntgenblick zu durchschauen schien und mich dennoch mochte. Dass ich mich ausgeliefert und aufgehoben zugleich fühlte, genau wie mit Mor, damals, am Anfang.
Was ist es bei Krystyna? Fehlt ihr etwas? Ist sie in ihrer Ehe unglücklich? Vielleicht ist sie nur nicht glücklich genug. Sie beteuert, dass alles wie immer sei, beziehungsweise besser, vor zwei Jahren war es eine Zeitlang schwierig, als eins der Kinder Probleme machte, während Richards Mutter so unerträglich langsam vor sich hin starb. Aber seither, nein, eigentlich alles gut, vertraut, du weißt ja, eingespielt, aber darum geht es nicht. Sie will jetzt offensichtlich nicht darüber nachdenken. Ihre Lider flackern, sie seufzt, sie ist wirklich nicht bei Sinnen. Sie gesteht, dass dieser andere Mann eine schöne Stimme hat, unbeschreiblich schön, wie oft hat sie ihn unter Vorwänden angerufen, noch eine letzte Nachfrage zu diesem Auftrag, vielleicht hat sie sich nur in die Stimme verliebt, und weil er so witzig schreiben kann.
Witziger als Richard, frage ich. Ich kenne Richard, wie gesagt, länger als Krystyna ihn kennt, er gehört zu meinen alten Freunden, und sein Humor ist so staubtrocken wie der Weißwein, der mir am besten schmeckt. Als wir Mitte zwanzig waren, Richard und ich, gingen wir zusammen auf Reisen. Ich machte Fotos und Filme, er schrieb Reportagen als freier Autor. Ich erinnere mich an einen Marktplatz in Afrika, an einen Tag, an dem alles schiefging, wir kamen weder an Bargeld noch an Batterien, beides war essenziell, wir hatten viel zu wenig gegessen, und ein Gefährt, das uns von dort, wo wir waren, weggebracht hätte, schien innerhalb der nächsten Woche nicht wahrscheinlich. Da machte Richard eine Bemerkung, die ich vergessen habe, aber er machte sie in dem komischen Englisch der Einheimischen, dieser Mischung aus Singen und Kauen, und dazu hob er auf unnachahmliche Weise nur eine Augenbraue. Da setzte ich mich vor Lachen in den Staub, weil ich mich sonst angepinkelt hätte. Buchstäblich. Da war Übermüdung dabei, Hunger, aufsteigende Panik, aber trotzdem. Die festlich gekleideten Einheimischen ringsum lachten auch, sie schütteten sich geradezu aus über uns, so wie wir uns über sie.
Das erzähle ich Krystyna, obwohl sie die Geschichte so lange kennt wie mich. Ich erzähle es, als würde ich für ihren Mann werben. Seit er die Firma seiner Eltern sowie die Planung der Tenniskarriere seiner Tochter übernommen hat, sind seine genial-trockenen Bemerkungen wohl spärlicher geworden.
Wart ihr wirklich nie ineinander verliebt, du und Richard, fragt Krystyna und wickelt sich eine Haarsträhne um den Finger.
Das hättest du jetzt gern, als völlig asynchrone Entlastung, necke ich sie, aber sie schüttelt den Kopf. Nein, alle eure Reisen und frühen Heldentaten, sagt sie, da habe ich mich immer gefragt, ob nicht…
Erstens ist das bald fünfundzwanzig Jahre her, sage ich streng, und wir waren einfach immer nur Kumpels, Richard, Henry und ich, vielleicht auch Florian.
Während ich das sage, fällt mir auf, dass ich später keine neuen Kumpels mehr akquiriert habe. Alle Kumpels, die ich habe, stammen von damals, aus meinen frühen Zwanzigern. So, als ob der schiere Überschuss an potenziellen Sexualpartnern, den man in der Jugend vorfindet, dafür sorgt, dass man einige der besten Exemplare sogleich in den viel haltbareren Zustand von Lebensfreunden überführt. Oder liegt es daran, dass man sich schon kurze Zeit später ausschließlich paarweise befreundet?
Krystyna ist inzwischen bei den Unterschieden im Witz angelangt. Sie führt aus, dass der neue Mann – mein Gott, Xane, wie das klingt! – auf eine völlig andere Weise witzig sei als Richard. Kreativer, meinetwegen oberflächlicher, mehr auf der Wort-als auf der Inhaltsebene. Sein Humor ist irgendwie – jünger. Es schwingt nicht immer die humanistische Bildung mit oder die komplette Frankfurter Schule, wenn du verstehst, was ich meine.
Ich verstehe, was sie meint, finde Richard damit aber ungerecht beschrieben. Die anderen, inklusive Mor, machen manchmal diese High-Brow-Witze. Aber Richard doch nicht. Vielleicht verlangt es Krystyna einfach nach einem jüngeren Richard? Vielleicht ist es so
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