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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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gespürt. Zumindest Viola hat sie gespürt, die hat ein Sensorium für alles, was ihr nützt. Bei Emmy weiß man nie so genau, was zu ihr durchdringt.
    Mor hingegen wird sofort persönlich, wie immer, wenn er wütend ist. Wenn er richtig wütend ist, habe ich Angst vor ihm. Er kennt mich so gut, er verletzt mich, wo er nur kann. Er entwirft ein so schreckliches Bild von mir, dass ich momentelang überzeugt bin, unsere Beziehung ist zu Ende, hier und jetzt, und mir bleibt, wegen meiner moralischen Verkommenheit, nur der Weg in den Selbstmord. Bis mir wieder, gleichsam beim nächsten Atemzug, einfällt, dass er mich strategisch plattwalzen will und niemand so über den Menschen denken könnte, mit dem er freiwillig zusammenlebt. Bis mich die Empörung über die ziselierten Abwertungen meines Charakters in die nächste Attacke auf seine Kindererziehungsdefizite treibt.
    Beim Streiten wird Mor eiskalt und leise. Seine Sätze beginnen mit Du solltest einmal darüber nachdenken, dass du immer…. Ich versuche das Gleiche, wir kreuzen die Klingen. Wenn man uns ohne Ton filmte, sähe das anfangs bestimmt gelassen aus: Hier diskutieren zwei vernünftige Menschen hart, aber fair. Doch nach einer Weile kann ich nicht mehr. Erst höre ich ihm länger und länger zu und lasse seine Worte wie Stiche in mich eindringen. Dann beginne ich zu schreien und zu weinen, ich schlage mit den Fäusten auf den Tisch oder gegen Wände, ich springe auf, stampfe mit dem Fuß und schüttle die Faust wie eine Erinnye. Zum Schluss verlasse ich heulend und türenknallend den Raum, um mich irgendwo einzusperren. Er läuft mir hinterher und hat plötzlich wieder seine normale Stimme, die warme, werbende. So endet es jedes Mal: damit, dass ich völlig aus der Fassung gerate. Mein Schreien und Weinen ist das, was bei Hunden das Darbieten der eigenen Kehle ist. Wie ein fairer, die Regeln beachtender Hund sieht Mor das ein und bietet den Frieden an (Hunde bringen einander fast nie um), aber da beginnt mein stundenlanges Verweigerungstheater, weil ich mich ja nicht aus dieser demütigenden Verlierer-Rückenlage hochrappeln und tun kann, als wäre nichts gewesen.
    Die schematisierte Abfolge ist mir von dem Moment an klar, da Mor dieses bestimmte Gesicht macht und dazu die Stimme herunterkühlt. Manchmal habe ich sofort um Gnade gebeten, darum, dass wir es diesmal nicht so entgleisen lassen mögen. Aber es nützt nichts: Er kann erst aufhören, wenn er mich so weit hat.
    Er würde entgegnen: Erst wenn du in Stücken bist, gibst du Ruhe.
    Vielleicht stimmt das.
    In den Tagen nach so einem Endzeitstreit sind wir miteinander vorsichtiger, in den Tagen nach den vorsichtigen sind wir glücklicher. Das Bild vom Gewitter und seiner Entladung scheint bei uns zuzutreffen. Ich finde nur, der energetische Preis ist zu hoch.
    Manchmal bin ich einfach aufgestanden und gegangen, als wir noch in der vermeintlich zivilisierten Phase waren. Ja, renn du nur weg, höhnte er und war danach so lange verstockt, bis der Streit wieder aufgenommen und zu seinem natürlichen Ende geführt wurde.
    Aber jetzt stellt Mor seine Teetasse hin und sagt: Wir haben doch beide nur Angst.
    Mir kommen die Tränen. Der Gedanke, dass sie uns einen Schal zurückbringen könnten, nur den Schal, der gelb ist, aber schmutziger als die U-Bahn. Ich kämpfe dagegen an. Viola ist am Leben, überaus platzgreifend am Leben, mit ihren Nasenringen und ihrer miesen Laune. Hier ließe sich eine Verbindungslinie ziehen, vom Neugeborenen zum Jugendlichen: Beide haben für die würgenden Ängste, die man ihretwegen aussteht, keinerlei Empfindung. Doch dem Baby wirft man es nicht vor.
    Ich lehne mich an Mors Schulter, er nimmt meine Hand und verschränkt unsere Finger. Und er erzählt mir, dass Viola neuerdings von der Idee besessen sei, ich würde ihn betrügen.
    Der Mann, von dem ich manchmal träume, hat kein Gesicht. Ich sehe ihn nur von hinten und möchte ihn für Mor oder, im äußersten Fall, für Nelson halten. Beides stimmt nicht. Denn er ist größer als die beiden, viel größer als ich, manchmal beugt er sich zu mir herunter, das sind meine Lieblingsmomente. Ich weiß nicht, ob ich ihn kenne oder kennenlernen will. Manchmal geht er vor mir, in verschwommenen, unbekannten Welten, und wie Eurydike folge ich ihm in genau bemessenem Abstand. Manchmal liege ich in seinen Armen, dann bin ich ihm zu nahe, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ich halte meine Augen geschlossen und drücke die Nase an seinen Hals. Wir

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