Quasikristalle: Roman (German Edition)
Kleinkindjahre zu tauchen. Manche bekommen im letzten Moment noch ein weiteres, den Nachzügler, aber irgendwann wird auch dieser eingeschult. Wie in Zeitlupe bricht ein gewaltiges Sinngerüst zusammen. Man könnte sich jetzt freier fühlen, beinahe neugeboren, doch man erblickt sich im Spiegel. Man fasst es nicht. Man ist endlich wieder schlank, aber zu welchem Preis. Die nächsten Jahre liegen blank vor einem, anheimelnd wie eine Mondlandschaft.
Meine Stieftochter Viola bezichtigt mich also des Seitensprungs. Das tut sie, um mir zu schaden. So bestimmt sie präzise das Schlachtfeld, das gleichzeitig Trophäe ist: Es geht um Mor, den Mann oder Vater. Und trotzdem kommt es bei mir als Kompliment an. Sie traut mir mehr zu als ich mir selbst. Mor behandelt die Sache scheinbar gelassen, als weitere Spielart ihrer altersbedingten Verrücktheiten. Von ihm aus, sagt er zu mir, könne sie jede Woche mit neuen Anklagen bei ihm auftauchen, wenn sie das bloß davon abhalten würde, in U-Bahn-Schächte zu springen.
Ich frage mich, ob ein U-Bahn-Runner sein krauses Hobby regelmäßig betreibt, oder ob es sich um eine Mutprobe handelt, die, einmal für Facebook dokumentiert, nicht unbedingt wiederholt werden muss. In letzterem Fall würde ich mir wünschen, dass sich das prachtvolle Kind für seine Seelenhygiene auch noch etwas anderes als Denunziation sucht.
Ich erfahre, dass Viola in meinen Handtaschen kramt. Sie hat in meinem Kalender nachgeschaut, um ihre Anschuldigung zu untermauern. Ich brause auf, aber Mor schränkt ein, dass sie das nur getan hat, weil sie etwas beobachtet hat, das sie sich nicht erklären konnte. Sie schwört, mich gesehen zu haben, vor ein paar Wochen. Der Tag, an dem du laut Kalender in Hamburg warst, sagt Mor, ich habe ihr gesagt, sie muss sich irren. Vor einem Hotel, mit einem Mann, den du geküsst und umarmt haben sollst. Er lächelt, etwas hilflos. Misstraut er mir oder schämt er sich für seine Tochter?
Ich schüttle den Kopf. Mein Gesichtsausdruck ist überaus passend, so sprach-und fassungslos. Leider ist es mir verwehrt, nach der Uhrzeit zu fragen, zu der sie mich gesehen haben will. Ich war ja in Hamburg. Das war ich auch, aber erst später.
Viola, das Luder, schwänzt also die Schule, treibt sich stattdessen mit viel Älteren am Ku’damm herum, ich erinnere mich dunkel an eine lärmige Gruppe, die direkt vor uns aus dem Bus stieg. Zwei oder drei haben sich gierig Zigaretten angezündet, als wäre die rauchfreie Zeit im Bus kaum überlebbar gewesen. Als ich mich von Nelson vor dem Hotel verabschiedet habe, war es maximal halb zwei, eine Zeit also, zu der Viola noch Schule hat, zumal in einem anderen Teil der Stadt.
Vergiss es, sagt Mor, wahrscheinlich war das zu erwarten, jetzt, da ihre Mutter zurück ist. Das ist bestimmt sehr verwirrend für sie. Wahrscheinlich muss sie dich schlechtmachen, damit sie Platz für die andere hat.
Ich nicke langsam, ich schaue bedeutungsvoll. Ich habe fast nichts getan und hasse mich trotzdem. Oder deswegen. Mein schlechtes Gewissen, das Gefühl, von einer Vierzehnjährigen bloßgestellt worden zu sein, wäre nicht größer, wenn ich mit Nelson geschlafen hätte. Vielleicht wäre es sogar kleiner.
Ich bin über Viola empört. Was für eine Kröte. Aber auf die Bilder, die sie mir als Kind gezeichnet hat, hat sie Wolken aus Watte geklebt.
Trotzdem wohnt dieser Sache auch Komik inne. Viola verschiebt den Zeitpunkt, an dem sie mich gesehen hat, nach hinten – wo ich tatsächlich in Hamburg oder auf dem Weg dorthin war –, ich dagegen könnte ihr das Schwänzen nur beweisen, indem ich mich selbst ausliefere. Ich bin ihr Spießgeselle, aber sie ist nicht meiner. Nur gut, dass sie das nicht weiß.
Heißt das, dass Mor hier der einzig Aufrechte ist? Wenn jeder von uns Geheimnisse hat, Zeitlöcher produziert, Spuren verwischt, dann gewiss doch auch er?
Nur ein Mal, soviel ich weiß, hat sich Mor vom Reiz des Verbotenen hinreißen lassen. Denn wir führen keine offene Ehe und haben das auch nie erwogen. So gesehen sind wir Spießer. Um uns herum existieren die verschiedensten Konzepte, offen, halboffen, orthodox treu. Halboffen sind Beziehungen, wo durchaus mal nach außen gevögelt wird, was aber weder platt eingestanden noch vom stochernden Misstrauen des anderen zutage gefördert wird. Genauso wenig belastet man einander mit selbstverliebten Wünschen nach Absolution. Man geht davon aus, dass ein bisschen außerehelicher Sex hie und da nicht mehr
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