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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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banal, mit Anfang vierzig, halbwüchsigen Kindern und einem ersten erstaunten Blick auf die vor einem liegenden, noch unverplanten Jahre?
    Sie nimmt ihr Handy heraus und fingert nach einer bestimmten SMS. Sie weiß, dass das, was sie gleich tun wird, sich kaum mehr von ›Sex and the City‹ unterscheidet, trotzdem kann sie nicht anders, als mir etwas vorzulesen, über das ich tatsächlich lachen muss, obwohl ich weder die Zusammenhänge noch den Absender kenne. So weit also schwankt die Niveau-Amplitude einer intelligenten Frau: erst hochpräzise Humorunterschiede herausmeißeln, dann, wie ein Girlie, zutiefst private Kurznachrichten vorlesen.
    Aber ich verstehe es ja. Sie muss irgendjemanden einweihen, teilhaben lassen, weil es den Genuss erst richtig aufschließt. Ein kleines Verbrechen ohne Mitwisser ist keines. Und dieser Jemand bin ich, der Resonanzkörper ihrer amour fou, und ich werde meine Rolle so gut spielen, wie ich kann. Niemals gelangweilt, bloß nicht zu kritisch. Ich muss sie ernstnehmen in ihrem entgrenzten Zustand. Ich nehme sie ernst. Das, was ich vor mir sehe, ist bitterernst, obwohl sie dauernd lacht. Und wer weiß, ob ich diesen Freundschaftsdienst nicht eines Tages von ihr brauchen werde.
    Verliebtheit ist eine Droge. Erstaunlich genug, dass wir so lange darauf verzichten konnten. Natürlich, die Nestbaujahre. Solange die Kinder klein sind, lebt man in einem anderen Universum, Lichtjahre entfernt von Spiel, Spaß und Egozentrik. Da gibt es nur Angst und diese schmerzliche, erschrockene Liebe zu den eigenen Kindern, wenn sie im Fieber krampfen oder von Husten geschüttelt um Luft ringen. Die spontane Assoziation zum Begriff ›Baby‹ lautet bei Kinderlosen vielleicht: Glück. Wenn Eltern ehrlich wären, müssten sie sagen: panische Angst um das Glück.
    An meine postnatale Depression erinnere ich mich folgendermaßen: Ich stand, gebeugt von vielstimmigen Unterleibsschmerzen, vor dem Wickeltisch, darauf dieses rote Ding, das für seine Kleinheit viel zu schwer und laut schien. Von seiner Körpermitte stand der Rest der Nabelschnur ab, eine Art gelber Plastikschlauch. Ich versuchte, die Windel zuzukleben, ich versuchte, den Body zuzuknöpfen, das Wesen, das mein Sohn war und erst noch richtig werden sollte, strampelte und schrie. Da spürte ich es wie eine Welle kommen, es stieg an mir hoch wie eisiges, verseuchtes Wasser. Dann hat es mich geschluckt. Es dauerte höchstens eine Minute, in der ich, von dieser schwarzen Chimäre umstanden, wie gebannt auf mein Kind starrte und zu wissen glaubte, dass alles falsch war, dass der Anfang missglückt war, dass aus mir keine gute Mutter werden konnte, dass aber dieses winzige Kind eine wunderbare Mutter haben musste, die beste der Welt, entweder mich oder keine. Trauer und Verzweiflung packten mich am Genick. Es war der Moment, in dem andere zugedrückt haben. Und wahrscheinlich habe ich von der Welle, wie sie wirklich sein kann, nur einen momenthaften Sprühregen abbekommen. Aber seither weiß ich es, spüre ich es in meinen Knochen, warum Frauen ihre Babys töten. Im Grunde aus Liebe.
    Von der kaltschwarzen Welle blieben Angst und Albträume, ein, zwei Wochen lang. Ich wagte nicht, das Kind an die frische Luft zu bringen, weil innere Bilder mir erzählten, wie ich stolperte und mit ihm die Treppe hinunterfiel. Weil die Bilder davon sprachen, dass ich den Kinderwagen vor ein Auto schob, ich hörte es knirschen und spürte, selbst unverletzt, die Motorhaube unter meinen Handflächen. Ich betrat mit dem Kind nicht den Balkon, ich ging nicht einmal ans offene Fenster. Am liebsten lag ich mit ihm zwischen Schutzwällen aus Kissen im Bett und schaute es an, wie es schlief, wie es trank, wie es meinen Finger umklammerte. Die einzige Besessenheit, die fehlte, war jene, die sich auf Messer bezog. Jahre später erfuhr ich, dass auch die Angst vor Messern und Scheren, Rasierklingen und Bratspießen zum klassischen Bild gehört. Davon abgesehen war es das klassische Bild. Gesagt hat es mir keiner. Es hat ja auch keiner gewusst. Ich tat alles, um das Geheimnis zu wahren: dass mir mein Kind fremd schien, dass ich nachts träumte, in Blut zu waten. Es kamen Blumen und Glückwünsche, am Telefon weinten meine Freundinnen vor Freude, dass es auch bei mir endlich geklappt hatte. Ich sagte ja, gut, müde natürlich, aber er nimmt schön zu, und wurde dank Internet zur Expertin für plötzlichen Kindstod.
    In dieser Zeit gibt es keine Leichtigkeit. Genauso wenig gibt es

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