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Titel: Quellcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Schädel gekeilt und damit ein so überwältigendes Missbehagen ausgelöst hatte, dass Milgrim es anfangs nicht als Schmerz identifizieren konnte. Ohne sein Wollen klappte sein Körper hoch, der Mund zum Schrei geöffnet, doch Brown, wie immer für solche Körperkontakte grün behandschuht, hielt ihn sofort mit einer Hand zu. Milgrim roch das frische Latex, das Browns Zeigefinger überzog. Die andere Hand hielt ihm das Display eines Blackberrys vor die Augen. »Was ist das?«
    Ein Personal Digital Assistant, wollte Milgrim schon beinahe entgegnen, erkannte aber dann durch den Tränenfilm hindurch auf dem Display eine sehr kurze Nachricht im Volapuk der Familie des IF.
    Browns Hand verschwand von Milgrims Mund, und mit ihr auch der Latexgeruch. »›Ich stehe vor der Tür‹«, übersetzte Milgrim ohne Zögern. »›Bist du da?‹ Unterzeichnet A – L – E. ›Ale‹.«
    »Ist das alles?«
    »Ja. Sonst. Nichts.« Milgrim massierte sich mit den Fingerspitzen das Kiefergelenk. Dort befanden sich dicke Nervenknoten. Sanitäter benutzten diesen Griff bei Notfallpatienten mit Überdosis. Da musste man wohl oder übel reagieren.
    »Zehn nach zwei«, sagte Brown mit Blick auf das Display.
    »Das heißt, dass die Wanze funktioniert«, meinte Milgrim ungefragt. »Du hast die Batterie ausgetauscht und siehe da: Sie funktioniert.«
    Brown richtete sich auf und ging in sein Zimmer zurück, ohne die Zwischentür zu schließen.
    Gern geschehen, dachte Milgrim und legte sich wieder aufs Bett, die Augen geöffnet, um den sich geißelnden Messias wieder herbeizurufen.
    In der Seitentasche des gestohlenen Paul-Stuart-Mantels hatte ein Taschenbuchwälzer aus dem Jahr 1961 über revolutionären Messianismus im mittelalterlichen Europa gesteckt. Wohl aufgrund der zahlreichen Unterstreichungen mit schwarzer Tinte war das Buch zuletzt mit drei Dollar fünfzig ausgezeichnet und wahrscheinlich an den Mann verkauft worden, dem Milgrim den Mantel abgenommen hatte.
    Der sich geißelnde Messias war in Milgrims Vorstellung eine Art grell kolorierter Hieronymus-Bosch-Actionfigur, gegossen aus äußerst hochwertigem, japanischem Vinyl. Mit einer eng anliegenden, gelben Kapuze bewegte sich dieser sonderbare Messias durch eine graubraune Landschaft, die noch von anderen Gestalten aus demselben Material bevölkert wurde. Einige von ihnen waren von Hieronymus Bosch beeinflusst: So zum Beispiel ein Paar enormer, wandelnder Hinterbacken, zwischen denen der hölzerne Schaft eines riesigen Pfeils herausragte. Andere, wie der sich geißelnde Messias, stammten aus dem gestohlenen Geschichtsbuch, in dem er jede Nacht herumlas. Soweit er sich erinnerte, hatte er nie zuvor an so etwas Interesse gehabt, fand es nun aber beruhigend, dass seine Träume auf diese Weise Farbe bekamen.
    Warum auch immer, er sah den IF als eine vogelköpfige Bosch-Kreatur, verfolgt von Brown und seinen Leuten, einer Schar von Braunkapuzen auf Wappen-Fabeltieren, die nicht wirklich Pferde waren, mit Kampfparolen im Volapuk des IF auf ihren wehenden Bannern. Manchmal streiften sie tagelang durch die Wäldchen, die an diese Landschaft angrenzten, und erspähten seltsame Kreaturen im Schatten der Bäume. Manchmal verschmolzen Brown und der sich geißelnde Messias auch und Milgrim erwachte aus Träumen, in denen Brown sein eigenes Fleisch mit Geißeln zerfetzte, deren Widerhaken mit demselben gräulichen Grün überzogen waren wie seine Pistole, seine Taschenlampe und sein Fernrohr.
    Aber dieses neue Devon-Meer, die blutwarmen Flachwasser, in denen diese Visionen schwammen, waren nicht dem Ativan zuzuschreiben, sondern dem Rize, einem japanischen Produkt, für das Milgrim rasch gehörigen Respekt entwickelt hatte. Er spürte, dass die Substanz Möglichkeiten barg, die sich erst mit der Zeit erschließen würden. Ein Gefühl von Mobilität zum Beispiel, das ihm in letzter Zeit abgegangen war – obwohl Milgrim sich natürlich fragte, ob das damit zu tun hatte, dass er gefangen gehalten wurde.
    Das Rize machte es ihm einfacher, über das Konzept Gefangenschaft nachzudenken, und er kam zu dem Schluss, dass es ihm ganz und gar nicht gefiel. Er war in keinem guten Zustand gewesen, als Brown auftauchte, und jemand mit Ativan und Anweisungen erschien ihm damals als keine schlechte Idee. Milgrim rief sich in Erinnerung, dass er ohne Brown jetzt sogar tot sein könnte. Auch das eine Gefahr, die drohte, sollten ihm die Medikamente zu plötzlich entzogen werden. Und wenn man kein Geld hatte, waren

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