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Quellcode

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Titel: Quellcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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des Kabelbinders, mit dem Milgrim an diese Bank gefesselt war. Wenn sie an diesen Vorrat musste, schnitt sie den Kabelbinder mit einer Zange oder einem Nagelknipser durch und brachte danach einen neuen an. Die ganze Prozedur ergab wenig Sinn, aber Milgrim hatte festgestellt, dass viele Leute etwas exzentrisch in Bezug auf ihre Drogen waren. Er hatte angenommen, dass die Kabelbinder ihr wie ein Wachssiegel an einem Brief als Beweis dienen sollten, dass sie selbst als letzte den Kasten geöffnet hatte. Milgrim hatte daraufhin nach ihrem Vorrat an Kabelbindern gesucht, dem einfachsten Weg, das zu umgehen, aber sie nicht finden können.
    Aber er hatte festgestellt, dass bei Kabelbindern eine winzige, hervorstehende Sperrzunge im Innern des Kopfs den durchge-zogenen Streifen mit der Rasterung arretiert. Als er gelernt hatte, die flache Spitze eines Uhrmacherschraubenziehers dazwischenzuschieben, konnte er ihre Kabelbinder nach Belieben öffnen oder schließen, sogar wenn sie sie ganz kurz abgeschnitten hatte, was sie gerne tat.
    Wegen seiner kleinen Diebstähle lag diese spezielle Beziehung bald hinter ihm, aber jetzt lehnte Milgrim sich nach vorne über seine Knie, um das ungekehrte Pflaster zwischen seinen Füßen zu betrachten. Er hatte bereits ein mentales Verzeichnis seines Tascheninhalts angefertigt und wusste, dass er nichts besaß, was einem solchen Schraubenzieher auch nur annähernd ähnelte.
    Obwohl ihm unangenehm war, dass man ihn für einen Süchtling halten konnte, der nach halluzinatorisch vorhandenen Crackkrümeln Ausschau hielt, führte er doch eine systematische Untersuchung des Bodens durch. Er bemerkte eine zweieinhalb Zentimeter lange Scherbe aus braunem Flaschenglas (und verwarf sie sofort). Den Kabelbinder durchzusäbeln war zumindest eine theoretische Möglichkeit, aber er hatte keine Ahnung, wie lange das dauern würde und ob es überhaupt funktionierte. Außerdem hatte er Angst davor, sich zu schneiden. Eine Büroklammer hätte es getan, nach einer Adhoc-Modifikation, wie Brown so etwas nannte, aber seiner Erfahrung nach waren Büroklammern oder Metallkleiderbügel nie dann zu finden, wenn man sie brauchte. Doch da, gut einen halben Meter von seiner rechten Schuhspitze entfernt, lag etwas Schmales, Rechteckiges und offensichtlich Metallisches. Glitzer-te schwach. Mit seiner gefesselten Hand hielt Milgrim sich an der Armlehne fest und rutschte mit einer Drehung unbeholfen von der Bank. Er streckte sein linkes Bein so weit wie möglich aus und scharrte mehrmals mit seinem linken Absatz über das Objekt, im Versuch es näher an sich heranzubringen. Beim fünften oder sechsten Scharren schaffte er es dann, sich seine erfreulich harte und schmale Beute mit der freien Hand zu angeln. Schnell setzte er sich auf die Bank zurück und nahm wieder eine unverdächtige Haltung ein.
    Er hielt das Ding zwischen Daumen und Zeigefinger wie eine Näherin ihre Nadel, und musterte es eingehend. Es war der abgebrochene Clip eines Füllers oder Kugelschreibers, gestanztes Blech oder Messing, Rostflecken auf der billig beschichteten Oberfläche.
    Beinahe perfekt. Er überprüfte, ob die Spitze durch die kleine Öffnung passte, in die das Ding hineinmusste, wenn er die unsichtbare Sperrzunge entriegeln wollte. Zu breit, aber nicht sehr viel. Er fand eine besonders raue Stelle Schmiedeeisen an der Seite der Armlehne und machte sich an die Arbeit.
    Es war gut, etwas mit den Händen tun zu können, oder zumindest mit einer, an diesem Sommertag. »Werkzeugmacher Mensch«, sagte Milgrim, und feilte weiter an seiner Houdini-Zauberklinge.

40. TANZ
    In gebückter Haltung band Tito sich die Schnürsenkel seiner Adidas-GSG9-Stiefel und erinnerte die Guerreros respektvoll daran, dass es Zeit war. Er stand wieder auf, spannte die Zehen an, überquerte die Fourteenth Street und ging hinein in den Park, seine Hand in der Jackentasche auf dem Plastikbeutel mit dem iPod.
    Juana hatte ihn einmal in Havanna zu einem Gebäude von großer und gänzlich verfallener Grandeur mitgenommen. Damals hatte er noch keine Ahnung, dass ein Bau von solchem Alter und solcher Raffinesse auch in anderem Zustand hätte sein können. Im Foyer breiteten sich Tempera-Kontinente und -Ozeane auf dem Gips von Wänden und Decken aus. Der Fahrstuhl hatte gewackelt und gequietscht. Er beförderte sie ins oberste Stockwerk, und als Juana die käfiggitterähnliche Metalltür aufdrückte, war Tito auf einmal das Geräusch der Trommeln bewusst geworden, das er schon

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