Quellen Der Lust
und hob dann den Kopf. „Ich weiß, du wirst jetzt vermutlich schlecht von mir denken …“
Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Ich denke überhaupt nicht schlecht von dir, Genevieve.“ Verdammt, er wünschte, er täte es, denn das wäre ihm lieber als dieses verwirrende, beunruhigende Gefühl von Zusammengehörigkeit, das ihn durchströmte. Das in ihm den überwältigenden Wunsch weckte, sie vor allem und jedem zu schützen, der ihr wehtun wollte. „Dein Verhalten ist völlig verständlich unter den gegebenen Umständen. Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen.“ Ja, auch wenn sie heftige Schuldgefühle in ihm weckte.
Ein Teil der Anspannung wich aus ihren Zügen. Er bewegte die Finger, strich liebkosend über ihre Wange. „Wie wurdest du seine Mätresse?“ Er wusste, er hatte kein Recht zu fragen, aber verflucht, er wollte es wissen.
Sekunden vergingen, und er sah, wie sie mit sich rang, ob und wie viel sie ihm verraten sollte. Endlich sagte sie ruhig: „Meine Mutter war eine Prostituierte. Für mich wollte sie etwas Besseres. Sie wollte nicht, dass ich das Leben ertragen musste, das sie durchlitt, und Gott weiß, dass auch ich mehr wollte. Unglücklicherweise haben Frauen nicht viele Möglichkeiten.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Sie sparte jeden Schilling, den sie entbehren konnte, damit ich nicht zu dem werden musste, was sie war. Ich war recht geschickt im Zeichnen und Malen, und sie kaufte mir Materialien. Als ich fünfzehn war, gingen wir nach London, und sie nahm die Arbeit in einem Bordell auf. Ich habe da auch gearbeitet – als Schneiderin, Köchin und Wäscherin. Dort habe ich Baxter getroffen. An einem Wintermorgen fand ich ihn in der Gasse hinter dem Bordell. Man hatte ihn zusammengeschlagen, ihn für tot gehalten und liegen gelassen. Ich habe ihn in meine Kammer geholt, und wie durch ein Wunder hat er überlebt.“
Simon schnürte es die Kehle zu. Mit fünfzehn hatte er alle Privilegien genossen, die der Rang und der Reichtum seiner Familie ihm geben konnten, während Genevieve und Baxter um das nackte Überleben kämpften. Er räusperte sich. „Du hast ihm das Leben gerettet. Kein Wunder, dass er dich beschützen will.“
„Und ich ihn. Er hat sich revanchiert, indem er der Bruder wurde, den ich nie hatte.“ Sie holte tief Luft und fuhr dann fort. „Ich machte mit meiner Arbeit weiter, und wenn ich Zeit hatte, malte ich. Claudia, die Madam, mochte meine Arbeiten und stellte sie in dem Haus aus, was in mir die lächerliche Hoffnung weckte, dass ich eines Tages vielleicht eine echte Künstlerin werden könnte. Unglücklicherweise starb Claudia, und unter der neuen Herrin änderte sich die Situation im Haus genauso wie die Kundschaft. Mehrmals wurde meine Mutter von Kunden geschlagen, und ich war verzweifelt bemüht, sie – uns beide – von dort wegzubekommen.“
Sie lachte bitter. „Leider gab es nicht viele Orte, zu denen wir gehen konnten, vor allem keine, in denen ich einfach nur in der Küche und der Wäscherei arbeiten konnte, ohne Liebesdienste anbieten zu müssen. Um die Sache noch schlimmer zu machen, behauptete die Madam, meine Mutter schuldete ihr Geld für die Verdienste, die ihr entgangen waren, während meine Mutter sich von den Schlägen erholte. Sie würde Mutter nicht gehen lassen, ehe die Schuld bezahlt war, und die Zinsen, die sie erhob, waren exorbitant. Zwar hasste ich es, meine Mutter allein zu lassen, aber ich suchte mir eine Stellung als Gouvernante. Leider wurde schnell deutlich, was der Herr des Hauses von mir erwartete: dass ich mich mit ihm einließ, wenn seine Frau und die Kinder schliefen. Ich war verzweifelt genug, das zu tun, alles zu tun, um genug Geld zusammen zu bekommen, um meine Mutter aus diesem Haus zu holen und sie davor zu bewahren, dass sie in den dunklen Gassen des Hafenviertels die Röcke hob. Ich war bereit, nachzugeben, alles zu tun, was nötig war, als meine Mutter in dem Haus vorsprach, in dem ich angestellt war. Sie erzählte mir, dass in den vielen Wochen, seit ich fort war, sie einen Mann kennengelernt hatte, einen freundlichen, reichen Mann, der regelmäßiger Kunde bei einem der Mädchen war. Einen Mann, der eines meiner Bilder bewundert hatte. Als meine Mutter ihm erzählte, dass ihre Tochter es gemalt hatte, sagte er, dass er mich gern kennenlernen wollte.
„Und das war der Aristokrat.“
Sie nickte. „Ich fand ihn attraktiv und angenehm, freundlich und – das vor allem war zu jener Zeit wichtig –
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