Quellen Der Lust
hing, das Bild, das sie gemalt hatte. Er hob die Kerze hoch, die er in der Hand hielt, und bemerkte wieder die lebhaften Farben, die ihm von der Leinwand entgegenzuspringen schienen, selbst in dem dämmerigen Licht. Den bemerkenswerten Pinselstrich. Die starken Wellen, die so lebendig wirkten, dass er beinahe zu hören glaubte, wie sie gegen die Klippen schlugen. War die blonde Frau, die über das Meer blickte, Genevieve? Er ertappte sich dabei, wie er den Finger ausstreckte, um die einsame Gestalt zu berühren. Sie war nicht nur klug, geistreich, charmant, freundlich, schön und sinnlich, sie besaß auch noch unglaublich viel Talent. Oder hatte es zumindest besessen, bis ihre Krankheit ihr das Selbstvertrauen genommen hatte.
Mit einem Seufzen zwang er seine Aufmerksamkeit zurück auf das Nächstliegende und machte sich wieder auf die Suche. Rastlos fahndete er nach versteckten Öffnungen in der Vertäfelung, nach losen Steinen am Kamin, falschen Böden in den Schreibtischschubladen, lockeren Bodendielen – allem, das ein Versteck bieten konnte für den Brief. Er ertappte sich dabei, wie er gegen die Enttäuschung ankämpfte, dass er jetzt ebenso wenig wusste, wer Ridgemoor ermordet hatte, wie zuvor, ehe er nach Little Longstone kam. Simon erwog, Waverly eine Botschaft zu schicken, um zu fragen, ob er, Miller oder Albury irgendetwas entdeckt hatten, das seinen Namen reinwaschen würde. Rasch verwarf er die Idee wieder. Eine Botschaft konnte abgefangen werden, und er wollte nicht, dass sein Aufenthaltsort bekannt wurde. Bestimmt hatte ein politischer Gegner Ridgemoor umgebracht, nur welcher? Es gab Dutzende. Und Simon wurde die Zeit knapp. Zum Teufel, er brauchte diesen Brief.
Methodisch durchsuchte er jeden Raum, konzentrierte sich auf seine Aufgabe, aber als er Genevieves Schlafgemach durchsuchte, wanderte sein Blick immer wieder zu ihrem Bett, und er stellte sich sie beide vor, ineinander verschlungen, mit forschenden Händen und Lippen, drängenden Körpern. Er kniff die Augen zusammen, um die erotischen Bilder zu vertreiben, aber damit wurden sie nur noch deutlicher. Leise fluchend wandte er sich dann bewusst vom Bett ab, um seine Aufmerksamkeit auf den Sekretär zu richten.
Nachdem auch eine gründliche Suche den Brief nicht in dem kleinen Sekretär zutage förderte, öffnete er noch einmal die oberste Schublade. Er ließ die Hände auf den handgeschriebenen Seiten ruhen, in denen er die Fortsetzung des Ladies’ Guide vermutete. Bedächtig strich er über die steile, von Schmerz gezeichnete Schrift, und es versetzte ihm einen Stich, als er sich vorstellte, wie schwer es für sie gewesen sein musste, dies zu schreiben. Es war ein Glück, dass sie diesen Ort gefunden hatte, Little Longstone, wo sie zu den heißen Quellen Zugang hatte, die ihr Erleichterung verschafften. Dorthin gehörte sie. Während sein Leben sich in London abspielte. Wohin er gehörte.
Sein Blick fiel auf den geflochtenen Korb neben dem Sekretär, und er bückte sich, um ein zerknittertes Blatt Papier herauszunehmen. Er strich es glatt und las die Worte, die Genevieve geschrieben hatte.
„Die moderne Frau von heute muss stets einen klaren Kopf behalten, wenn sie sich in der Gesellschaft eines charmanten und attraktiven Gentlemans befindet. Je charmanter und attraktiver der Mann ist, desto schwerer wird ihr das fallen. Daher kann es sich als sehr nützlich erweisen, sich auf etwas zu konzentrieren, das mit ihm nichts zu tun hat, etwa im Geiste Hamlets Monolog zu rezitieren oder etwas Langweiliges, wie etwa bis Hundert zu zählen.“
Bei diesem Rat umspielte ein Lächeln seine Lippen. Sie war eine bemerkenswert kluge Frau. Die letzte Zeile war stark verschmiert und zweifellos der Grund, warum sie das Blatt weggeworfen hatte. Aus Gründen, die er nicht erklären konnte, abgesehen davon, dass er diesen Teil von ihr nicht wieder zum Unrat werfen konnte, faltete er das Papier zusammen und steckte es in seine Westentasche. Dann setzte er seine Suche fort.
Mehrere Stunden später, kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen das nächtliche Dunkel durchbrachen, war er mit dem letzten Raum fertig und seufzte tief. Er hatte nichts gefunden – abgesehen von seinem plötzlich auftauchenden Gewissen, das sich ständig beschwert hatte, weil er Genevieves Privatsphäre störte.
Verdammt, er hätte sie einfach fragen sollen, was aus dem Brief geworden war. Er hätte ihr vertrauen sollen, so wie sie ihm vertraut hatte. Hätte ihr sagen sollen, wer er war.
Weitere Kostenlose Bücher