Quellen Der Lust
die Arme genommen. Würde sie ihm das erlauben? Angesichts ihrer Reaktion vorhin bezweifelte er das. Vermutlich würde sie ihm eher eine Ohrfeige verpassen, was ihm den Rest geben würde. Und wenn das noch nicht genügte, würde Baxter mit Vergnügen alles andere übernehmen.
Er musste gehen. Sie musste bleiben. Er würde sie niemals vergessen, aber ihre gemeinsame Zeit war vorüber.
Und ganz gewiss würde es nach einer gewissen Zeit auch nicht mehr wehtun.
Bestimmt nicht.
Genevieve starrte aus dem Wohnzimmerfenster, während das, was Simon gerade zu Dr. Bailey gesagt hatte, in ihrem Kopf widerhallte. Ich muss so schnell wie möglich nach London zurück. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht. Genau genommen waren es nicht Simons Worte gewesen. Es waren die des Viscount Kilburn.
Sie kniff die Augen zu. Ein Viscount. Nur ein weiterer böser Streich an einem Morgen, der voller Streiche gewesen war. Zuerst hatte sie geglaubt, er würde sterben. Dann hatte sie erkannt, dass sie ihn liebte. Schließlich die Erleichterung, als er das Bewusstsein wiedererlangte, gefolgt von der albernen Hoffnung, dass sie irgendwie vielleicht doch nicht Abschied nehmen müssten. Dass ihm vielleicht ebensoviel an ihr lag wie ihr an ihm.
Aber zu guter Letzt hatte sie seinen Geständnissen zugehört. All diese Lügen. Das gebrochene Herz. Die Betäubung. Die zerstörten Träume, die sie kaum verstanden hatte, ehe sie sich in Nichts auflösten. So sehr sie es auch schmerzte, dass er sie belogen hatte, sie konnte doch nicht leugnen, dass er triftige Gründe gehabt hatte. Er kannte sie nicht. Wusste nicht, ob er ihr vertrauen konnte. Er hatte getan, was nötig war, um einen Mörder aufzuhalten – den Mann, der Richard ermordet hatte –, um sich selbst und andere zu retten.
Der Gedanke, dass er sie verführt hatte, um Zugang zu ihrem Haus und zu dem Brief zu erlangen, erfüllte sie mit einer Mischung aus Zorn und Schmerz, sodass es ihr schwerfiel, ruhig zu atmen. Aber seine Versicherungen, dass das, was so begonnen hatte, etwas anderes geworden war – ihr Herz hatte sich daran geklammert und einen Funken Hoffnung genährt, den seine letzten Worte wieder ausgelöscht hatten.
Was hatte sie getan? Wie eine Närrin hatte sie wieder zu hoffen begonnen. Gehofft, dass sie irgendwie einen Weg finden würden, zusammen zu sein, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen, hatte ein glückliches Ende für sie beide erträumt, wie sie vor dem Pfarrer standen und einander ewige Liebe gelobten. Genevieve Ralston, die anonyme Autorin, und Simon Cooper, Mitarbeiter der Krone.
Nur, dass er gar nicht Simon Cooper war.
Sie lachte freudlos, und die Fenster beschlugen. Ein Viscount. Ein Viscount! Dieses eine Wort hatte die Blase des Fantasiebildes zerplatzen lassen. Wie hatte sie noch einmal denselben Fehler machen können? Wie hatte sie sich noch einmal in einen Mann verlieben können, den sie nicht haben konnte?
Das Geräusch einer zuschlagenden Tür schreckte sie aus ihren Gedanken, und sie drehte sich um und stellte fest, dass sie mit Simon allein war. Er stand vom Sofa auf und kam auf sie zu, mit einem weißen Verband um den Kopf. Wieder sah sie vor sich, wie er blutend am Boden gelegen hatte, und sie blinzelte ein paar Mal, um das Bild zu vertreiben.
Er blieb auf zwei Armeslängen entfernt stehen. „Der Arzt sagt, ich darf reisen. Ich kehre nach London zurück, sobald alles arrangiert ist.“
„Ich verstehe.“ Und das tat sie. Sie wünschte nur, es würde nicht so schrecklich wehtun.
„Ich muss gehen, Genevieve. Das ist meine Pflicht. Ich muss meinen Vorgesetzten berichten, den Brief unserer Dechiffrierabteilung geben …“
„Sie müssen mir nichts mehr erklären, Mylord. Ich weiß, dass Sie gehen müssen.“
Stirnrunzelnd kam er näher, und sie musste ihre ganze Kraft aufbringen, um nicht zurückzuweichen, sondern einfach stehenzubleiben, wenn sie doch am liebsten in ihr Schlafzimmer gerannt wäre, sich eingeschlossen und so getan hätte, als hätte es diesen Tag nie gegeben. So getan, als wäre er ein einfacher Verwalter und sie nur eine verliebte Frau.
Und sie blieb stehen, sogar, als er die Arme ausstreckte und ihre Hände ergriff. Er sah ihr in die Augen, und sie zwang sich dazu, sich nicht abzuwenden. Warum sollte sie sich nicht an ihm satt sehen? Sie würde ihn nie wiedersehen.
„Simon, nicht Mylord“, sagte er ruhig. „Du sollst wissen, dass die Zeit mit dir für mich unvergesslich sein
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