Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
ihnen musste völlig zerstört und eingedrückt sein. Die Lawine hatte über dem Schneefeld wegen der fehlenden Bäume sicher noch einmal Geschwindigkeit aufgenommen und war dann ins Tal Richtung Siebenhütten gerast. In diesem Fall hatten die Bergungstrupps schon allein damit zu tun, sich dem Standort der Hütte zu nähern. Das Feuer würde ausgehen, sie würden lange frieren. Und einschlafen durfte er auch nicht. Ausgerechnet heute war die längste Nacht, die Thomasnacht. Quercher war gefangen. Hannah entschied jetzt, ob er leben durfte. Das war ihm klar.
Hudelmeier hatte recht gehabt. Hannah war auf die Tagebücher aus gewesen. Doch Quercher hatte ihr aus einem einfachen Grund blind vertraut: Er hatte sich in Hannah verliebt. Und diese kurze Wärme war jetzt der Kälte des Verrats gewichen. Hannah konnte dort ganz ruhig sitzen und lesen, weil sie wusste, dass er nicht fliehen konnte. Nicht mit einem gebrochenen Bein unter den Schneemassen begraben. Seine Gedanken wogten wie Wellen bei schwerer See. Er konnte sich kaum konzentrieren. Bilder aus der Vergangenheit traten in sein Bewusstsein und verschwanden wieder.
Die Nacht des Thomas. Er schüttelte leicht den Kopf. Ausgerechnet. In der längsten Nacht des Jahres hatten die Menschen am meisten Angst. Dann hatten die Dämonen und Teufel der Nacht ausgiebig Zeit, die Leute mit Albträumen zu quälen.
Seine Mutter hatte ihn als Kind mit all den Sagen der Region gepeinigt. Am stärksten waren ihm die Erzählungen über die Thomasnacht in Erinnerung geblieben. Thomas war sein Lieblingsheiliger. Weil er nachfragte, weil er nicht alles glaubte. Der heilige Thomas war der erste Ermittler der Christenheit, hatte er einst seiner Mutter lachend erzählt, als er nach bestandenem Examen von der Polizeischule nach Hause gekommen war, um sich feiern zu lassen. Dafür, dass er mehr war als ein Talbewohner. Weil er herausgekommen war. »Thomas«, hatte er seiner Mutter gesagt, »brachte Jesus dazu, ihm den Beweis zu liefern, nach dem sich alle Menschen so sehnten.« Seine Mutter hatte ihn bitter angesehen und geantwortet: »Thomas hat den Herrn versucht. Er war ein kleiner Geist.« Jahre später meinte seine Mutter, dass es einen Grund habe, warum man den Vater nie im See gefunden hatte und sein Grab wie das des Herrn leer blieb. Denn auch der Vater war ungläubig gewesen. Und darum war er bestraft worden.
»Steine sollst du wählen. Steine sollst du zählen. Die Frau, die du dir nimmst, wird dich zum Ende quälen«, murmelte Quercher leise.
Jetzt sah Hannah auf. »Was hast du gesagt?«
»Es ist ein Reim aus meiner Kindheit. Meine Mutter hat ihn mir beigebracht.«
Sie robbte mit einer weiteren Flasche zu ihm und hockte sich an seine Seite. »Ich habe Schnee geschmolzen. Trink das.«
Ihr Gesicht war jetzt ganz nah. Er sah ihren dunklen Flaum, der vom Ohr hinab zu den Wangen verlief. Das zugewachsene Loch in ihrem Ohrläppchen. Sie gab ihm einen Kuss, den er nicht erwiderte. Er blickte auf ihre Hände, mit denen sie auf einen Mann geschossen hatte.
»Rede mit mir«, sagt er leise. »Ich will es verstehen.« Er trank das Wasser, das ihm kalt die Kehle hinunterlief, und sah sie auffordernd an. Sie ließ sich neben ihn fallen und lehnte an der Wand.
»Was willst du wissen?«, fragte sie leise.
»Was machst du wirklich hier?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist alles etwas kompliziert. Ich kann es dir noch nicht sagen. Das ist für uns beide besser. Reicht dir das?«
Jetzt schüttelte er den Kopf. »Wonach warst du auf der Suche? Und wer ist die Wachsleiche?«, fragte er.
Hannah griff nach der braunen Schnapsflasche, nippte daran, verzog das Gesicht, aber ließ ein paar Tropfen ihre Kehle hinuntergleiten. Sie rieb ihre Hände, als sie nach einem Augenblick der Stille zu erzählen begann.
»Mein Großvater gehörte zum sogenannten ›Freundeskreis Heinrich Himmler‹. Er war, so jedenfalls wurde es mir erklärt, kein überzeugter Nazi, eher ein klassischer Mitläufer. Aber er war vor dem Krieg Kaufmann gewesen und in Wirtschaftsfragen sehr begabt. Als der Krieg zu Ende ging, hat er für sich und seine Kameraden Rücklagen gebildet. Allen war klar, dass es irgendwie weiterging. Jeder tauchte so gut unter, wie er nur konnte. Mein Großvater nahm die Identität eines Kameraden an. Eines Hans Kürten, von dem er kurz vor seinem Tod erfuhr, dass dessen Familie bei einem Bombenangriff auf Düsseldorf 1943 umgekommen war. Niemand hat seine neue Identität je infrage gestellt. Nur
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