Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
wartete auf sie, dachte Hannah.
»Und deine Familie? Die freut sich doch, also … Die sind doch …«
»Ah, ja. Die Türken sind ja so familienorientiert und so kinderfreundlich. Aber diese Familie hat mich jahrelang genervt und manchmal auch fertiggemacht. Ich bin Polizistin. Unter anderem wegen Typen wie Quercher.«
»So? Warum?«, fragte Hannah so beiläufig wie möglich.
»Quercher kenne ich seit meiner Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei. Er kam aus Düsseldorf, hatte da einen spektakulären Fall gelöst. Trotzdem wollte er nach Bayern zurück. So ein Wechsel ist sehr aufwendig und funktioniert nur, wenn zeitgleich ein Kollege in das andere Bundesland wechseln will. Ein Ringtausch sozusagen.«
Hannah war nicht so sehr an den Feinheiten der bayerischen Versetzungspolitik interessiert, wusste aber, dass gleich mehr kommen würde. Menschen brauchen Vorlauf für Vertrauen, das hatte sie als Firmenchefin schnell lernen müssen.
»Er kam dann für kurze Zeit zu einer Einheit der Bereitschaftspolizei, dem Unterstützungskommando. Dort war er kommissarischer Leiter und die haben ihn gehasst. Quercher mag keine Waffen. Er hält sie für überschätzt. Bei einer Demo von Faschisten in München war ich ihm zugeteilt. Wir mussten bei Straftaten zugreifen, die jeweiligen Leute aus dem Demonstrationszug holen. Am Abend spielte Deutschland im Finale der EM. Alle Kollegen wollten nach Hause oder in die Kaserne. Quercher hasst die Nazis. Und einer der Veranstaltungsleiter kam ihm dumm. Wollte ihn provozieren und trat auf ihn zu. Ganz nah.« Arzu zeigte den Abstand mit der Hand. »Quercher drehte sich weg und ordnete eine Leibesvisitation bei dem Mann an. Die Nazis hatten einen Anwalt dabei. Der kam mit Paragrafen daher. Also ließ Quercher den Nazi selbst seine Taschen ausräumen. Plötzlich lag da eine kleine Schusswaffe in seiner Hand. Der Typ schrie, das wäre nicht seine. Und warf sie weg. Dabei löste sich ein Schuss. Quercher drückte den Typ zu Boden, löste die Demo mit den Worten ›Schlagstock frei‹ auf und alle sahen am Abend das Fußballspiel.«
Hannah konnte sich an Arzus fast atemlos erzählter Heldengeschichte kaum satthören. Sie war so sehr von dieser zweifellos illegalen Tat begeistert, dass sie die Dimension des Rechtsbruchs nicht erkannte. Doch der war ihr auch egal. Hier war es ja um eine gute Sache gegangen.
Arzu nahm eine Bürste aus einer Plastiktüte, die ihr Anke gegeben hatte und die notwendigsten Utensilien für eine Übernachtung beinhaltete. Eine Bürste war ein Muss bei Arzus langen und kräftigen Haaren, die ihr in den letzten Tagen aus für sie unverständlichen Gründen in größeren Büscheln ausfielen. Umso zorniger zog sie die Bürste durch die lange schwarze Pracht.
»Quercher will weg, aufhören, warum?«, fragte Hannah.
Arzu schloss die Augen. Genau darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie hatte von Querchers Plänen ja auch erst gerade im Schützenstüberl erfahren. Wegen Leuten wie ihm war sie zur Polizei gekommen. Ohne ihn würde ihre Arbeit anders werden. Arzu lehnte an der Heizung und sah auf die beschlagenen Fenster, an denen Tropfen langsam ihren Weg nach unten zogen.
Hannah spürte ihre Traurigkeit, war aber zu müde, um darauf einzugehen. »Ich gehe ins Bett. Schlaf gut.«
Sie legte flüchtig ihre Hand auf Arzus Schulter, ehe sie leise über den Flur tapste und in ihr Zimmer schlüpfte.
Kapitel 20
München, Mittwoch, 20. 12., 07.25 Uhr
Es war noch tief dunkel und über den Odeonsplatz fegte ein eisiger Wind, der Schnee aufwirbelte und Dr. Pollinger ins Gesicht wehte.
Er war um fünf Uhr früh zu Hause an seinem Schreibtisch aufgewacht, die Arme über den Akten und Bildern aus alten Tagen aufgestützt, den Kopf darin versunken. Sein Magen hatte gebrannt. Es war ihm egal. Er goss heißen schwarzen Kaffee darauf, wissend, dass gleich die Säure hinauf in die Speiseröhre schießen würde. Dann hatte er in der Badewanne geduscht, sich rasiert und einen teuren Anzug, den noch seine Frau für ihn ausgesucht hatte, angezogen und war über den Altstadtring an der bayerischen Staatskanzlei vorbei zum angeblich schönsten Platz Münchens durch tiefen Schnee marschiert.
Die ganze Nacht über hatte es geschneit. Der Räumdienst der Landeshauptstadt galt als der beste bundesweit. Aber auch er musste kapitulieren. Es fiel seit Tagen zu viel von der weißen Pracht. Also arrangierte man sich, stapfte und fluchte über zugeschneite Wege und rutschige
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