Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
zum Haus seiner Schwester fuhr. Er war kurz versucht gewesen, den Weg von Andi Birmosers Werkstatt bis zum Gut Kaltenbrunn, wo er den Wagen zurückgelassen hatte, zu Fuß zu gehen. Dann hatte er sich doch ein Taxi gerufen und anschließend das Auto unter den erstaunten Blicken der Spaziergänger am See im Schneckentempo den Hang hinaufgefahren.
Sein Entschluss stand fest: Er würde hier weiter ermitteln. Es war eine müde Halsstarrigkeit und ein von Erfahrung und Ausbildung geprägtes Gefühl, das ihm sagte, dass der Fund der Wachsleiche ihn zu einer weitaus größeren Sauerei führte, als er bislang annahm.
In gewisser Weise, so spekulierte Quercher, waren der tote Kürten und Hannah eine Lebensversicherung für ihn. Nie würde sich ein staatliches Organ offen gegen ihn stellen, wenn es um die Interessen einer derart einflussreichen Person wie Hannah ging.
Er verscheuchte den Gedanken wieder, um im nächsten Moment erneut an ›seine‹ Insel denken zu müssen. Und diese Vorstellung würde ihn jetzt nur ablenken. Er musste sich auf diesen Ort und seine Menschen konzentrieren.
Schlickenrieder, Stangassinger und dieser Brunner. Wie ein Mantra sagte er die Namen still für sich auf. Nur Hans Kürten schien nie in Erscheinung getreten zu sein. Welche Rolle spielte dieser Kerl?
Lumpi sah aus dem Seitenfenster auf die schneeschaufelnden Pensionsbesitzer. Zu Weihnachten waren viele Gästehäuser wieder ausgebucht. Der Ort galt als halbwegs schneesicher, hatte wunderbare Loipen für Langläufer und bot zudem gemächliche Ruhe statt einer lauten Partyzone wie beispielsweise in österreichischen Skidörfern.
Querchers Smartphone brummte auf dem Armaturenbrett. Elli Schlickenrieder las er auf dem Display. »Quercher.«
»Hast du Zeit?«
»Hmmm.«
»Max, ich will nicht darum bitten müssen.«
»Wo?«
» Bayersäg , unser alter Platz.«
Quercher wusste sofort, welchen Ort sie meinte. Die Bayersä g war eine inoffizielle Badestelle am Ufer des Tegernsees, direkt neben der um den See führenden Bundesstraße. Sie lag auf halbem Weg zwischen Gmund und Bad Wiessee. Tatsächlich hatte hier einst ein altes Sägewerk gestanden.
Während ihrer Schulzeit hatten Quercher und Elli dort stundenlang gesessen und über ihre Ziele und Ängste gesprochen. Elli war in dieser Zeit für Quercher der einzige Mensch gewesen, dem er sich öffnen konnte.
Er drehte den Wagen in der Einfahrt eines Supermarktes und fuhr wieder Richtung Norden an der Spielbank des Ortes vorbei. Ein Räumfahrzeug zwang ihn, langsam zu fahren.
Der Parkplatz vor der Badestelle war leer. Quercher öffnete die Tür und ließ Lumpi hinaushüpfen, die sofort freudig jeden Baum beschnüffelte. Er rutschte einen kleinen Hang hinunter und sah sie dort auf den Resten eines Betonstegs sitzen.
Elli hatte schon einige Minuten dort gewartet und dem Knacken des Eises zugehört. Ihr Leben glitt ihr gerade aus den Händen.
Elli Schlickenrieder hatte viele Wandlungen durchgemacht. Von einer schüchternen Schülerin über eine junge Mutter zu einer sich selbst suchenden Frau in den mittleren Jahren, wie es ihre Therapeutin irgendwann einmal gesagt hatte. ›Frustriert und verbittert‹ hatte in dieser Aufzählung gefehlt. Sie war über vierzig Jahre alt und alles, wirklich alles war schiefgelaufen in ihrem Leben. Wenn sie nicht das Yoga für sich entdeckt hätte, wäre sie, davon war Elli überzeugt, längst nicht mehr am Leben.
Sie hatte ihren Mann schon in der Schule gekannt. Er war der Junge mit der größten Klappe. Ein Aufschneider, aber gut aussehend und ehrgeizig obendrein. Elli war eigentlich in den stillen, zurückgezogenen Maximilian Quercher verliebt. Aber seine Interessen, seine zuweilen verqueren Ansichten hatten sie damals überfordert. Und so richtig an ihn herangekommen war sie nie.
Es war die Geschichte von der Taube auf dem Dach und dem Spatz in der Hand. Elli war, wie sie fand, einfach einmal in ihrem Leben falsch abgebogen.
Sie schloss die Augen, ließ, wie es ihre Therapeutin ihr geraten hatte, die Stationen ihres Lebens an sich vorbeiziehen. Wie sie mit Josef lachend auf dem Waldfest in Kreuth tanzte. Sie, die aus der Bergarbeitersiedlung Marienstein, nicht weit von hier, stammte. Wie der Großvater vom Josef sie anschrie, sie als Erbschleicherin bezeichnete. Wie sie und Josef ihre erste Fünfzigquadratmeterwohnung bezogen. Wie er den Elektrobetrieb übernahm. Wie der Großvater immer noch kein Wort mit ihr redete. Wie sie das erste Mal bemerkte,
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