Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht
privaten Gründen für seinen Heimatort entschieden: Appel lebte mit einer attraktiven, recht resoluten Frau zusammen, die er schon seit Schulzeiten kannte.
»Was ist los?«, fragte Quercher und legte seine Hand auf Appels Schulter.
»Komm rein, nicht hier draußen.«
Sie schritten in den warmen, nach Semmeln und Kaffee duftenden Flur und Quercher folgte dem Arzt mit knurrendem Magen in den Keller, wo sie vor einer Eisentür stehen blieben.
»Meinst du, du hast noch einen Kaffee für mich?«
»Warte ab. Ich bezweifle, dass du danach noch Nahrung zu dir nehmen möchtest.« Appel deutete auf die Tür. »Das ist meine Kühlkammer. Ich bin, wie du weißt, Jäger. Da hängt meistens mein Wild. Dank dir ist nun ein Mensch hinzugekommen.«
Er zog an dem Griff und wuchtete die Tür auf. Kälte schlug Quercher entgegen. Appel drückte auf den Lichtschalter und flackernd glimmten Neonröhren auf. Auf einem Edelstahltisch lag die Leiche in einer schon von Weitem riechenden Lache.
»Sie ist ein wenig aufgetaut. Ich habe ihr etwas Wärme zugeführt, damit ich besser daran arbeiten konnte. Ich muss dich nicht mit den Regeln der Leichenschau vertraut machen. Selbstverständlich habe ich ein festes Schema bei der Begutachtung eingehalten. Und so würde ich sie dir auch gern erklären. Wir fangen am Kopf an.«
Appel reichte Quercher einen Mundschutz, Gummihandschuhe und ein Töpfchen mit Tigerbalsam. Quercher nahm es dankend an und rieb sich etwas davon unter die Nase.
Ihm war die Begutachtung von Leichen nicht neu. Aber Wachsleichen waren ihm selten untergekommen. Hin und wieder, bei richterlich angeordneten Exhumierungen, stieß man auf dieses Phänomen. Das Grundwasser auf Friedhöfen stieg, ließ den Sauerstoff, der zur Zersetzung notwendig ist, nicht an die Särge heran, und so blieben die Körper Jahrzehnte, zuweilen sogar Jahrhunderte in einem mumifizierten Zustand konserviert. Einmal an der Luft, begann der Prozess der Verwesung aber sofort. Und genau das sah und roch Quercher gerade.
»Ich muss dir nicht sagen, dass meine Mittel hier natürlich amateurhaft sind«, begann Appel mit seinen Ausführungen. »Und dass das alles inoffiziell ist, dürfte auch klar sein. Ich will, dass der Körper noch heute verschwindet. Bis zum Mittag habe ich meine Termine abgesagt. Danach möchte ich mich aber gerne wieder meinen Patienten widmen. Denn so gerne ich dich mag, sosehr mir das Aufklären dieser Sache am Herzen liegt: Ich möchte nicht wegen so etwas meine Approbation verlieren.«
Quercher nickte, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was er mit dem Körper machen sollte.
Appel las Notizen auf einem Klemmbrett ab. »Also, wir haben es hier mit einem männlichen Toten zu tun. Alter: nicht leicht festzustellen. Ich würde allerdings auf nicht jünger als dreißig Jahre, aber auch nicht älter als fünfzig schätzen.«
Appel nahm einen Kugelschreiber mit dem gelben Logo einer Pharmafirma aus seiner Brusttasche und ging um den Tisch herum an das Kopfende. Quercher sah in das verzerrte Gesicht des Toten. Die Augen waren grotesk geöffnet, nur ein Lid hing leicht über das rechte Auge, so als ob es Quercher zuzwinkern würde.
»An der Kopfhaut sind keinerlei Spuren von äußerer Einwirkung zu sehen«, fuhr Appel fort. »Halshaut, Augenlider und Bindehäute sind befundlos. Auch im Mundbereich konnte nichts Auffälliges entdeckt werden. Der Tote hat, und das stützt deine Theorie, eine Prothese im hinteren Zahnbereich, die erst deutlich nach dem Krieg eingesetzt wurde. Es sind keine äußeren Anzeichen von Hunger oder Erschöpfung, Folter oder anderen typischen Merkmalen einer Kriegsgefangenschaft zu erkennen. Am Rücken sowie im Bauchbereich sind Schürfspuren zu sehen, die aber wohl post mortem entstanden sind. Vermutlich hat sich der Körper im Zuge der Zeit und der Bewegung des Bachlaufs gedreht, ist über Gestein gezogen worden und hat diese Spuren bekommen. So lässt sich aber nicht ein Beckenbruch erklären, der nicht postmortal erfolgte. Dem scheint ein Sturz vorausgegangen zu sein. Äußerliche Einwirkung auch hier negativ. Am linken Arm, knapp fünfzehn Zentimeter über dem Ellenbogen, befindet sich eine wenige Milimeter große Tätowierung mit zwei Buchstaben. Das ist, so würde ich es als Arzt einschätzen, die Blutgruppe. Der feine Herr war im Krieg. Und damit nicht genug. Er war bei der SS.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Quercher, der sich mit solchen Details nicht auskannte.
»Die Waffen-SS und die
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