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Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht

Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht

Titel: Quercher 01 - Quercher und die Thomasnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Calsow
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hören. Sie kannte keine Gnade. Wenn sie einmal in Fahrt war, spuckte die pure Bösartigkeit aus ihr heraus. Als Kind war er fast schon froh über die Schläge gewesen, solange sie nur nicht ihre Wortgalle über ihn leerte.
    »Mutter, Anke und ich werden das für dich …«
    Sie hob gebieterisch die Hand. »Ach was, du bist zu nichts zu gebrauchen. Eher gehe ich hoch in den Wald und häng mich auf, als dass ich mich auf dich verlasse. Es ist wie immer, wenn du da bist. Alles wird schlecht.«
    Er stand neben seinem Auto vor einem Schneehaufen und kotzte. Lumpi saß auf dem Beifahrersitz und sah ihn fragend an. Sie spürte, wie er litt. Quercher hatte seine Sachen aus seinem Zimmer geholt, war wortlos an der Küche, in der seine Mutter noch immer still saß, vorbeigegangen und zu dem Ort oberhalb des Tals gefahren, der ihn schon in seiner Kindheit beruhigt hatte. Für einen Augenblick hatte der Schneefall eine Pause eingelegt. Es war windstill, der Himmel riss auf. Unten reflektierte der Schnee, der auf der Eisfläche lag. Quercher konnte Menschen über den See laufen sehen.
    Die ganze Sache hier wuchs ihm über den Kopf. Sein Fluchtinstinkt regte sich, flüsterte ihm zu, alles stehen und liegen zu lassen, nach München zu fahren, in seinem Lokal etwas zu essen, danach in die Klubs und anschließend mit etwas Jungem nach Hause zu gehen und all das Kaputte und Kranke und Tote hier zu vergessen. Er würgte noch einmal. Maximilian Quercher wischte sich mit einer Serviette, die er aus dem Schützenstüberl mitgenommen hatte, den Mund ab. Er rauchte nicht regelmäßig. Aber jetzt war so ein Moment, wo er inhalieren wollte. Er öffnete die Fahrertür und griff in das Seitenfach.
    Die Angst vor der Traurigkeit kroch in seinen Körper. Er spürte sie. Nach der ersten Panikattacke im Bundestag war das immer häufiger der Fall gewesen. Die Erinnerung überkam ihn. Es war im Hochsommer. Er hatte nach Düsseldorf fliegen müssen, um dort seine Wohnung aufzulösen. Er stand im Flughafen und hörte, wie sein Name aufgerufen wurde. Sah, wie das Gate geschlossen wurde, wie die Maschine nach hinten rollte und später abhob – ohne ihn. Er konnte sich nicht bewegen. Zwei Stunden hatte er so dagesessen. Dann war er in ein Taxi gestiegen, hatte aus allen Poren geschwitzt und nur mit Mühe ein Ziel nennen können – den Dom in Freising. Er wusste nicht, warum. Er hatte sonst keine anderen Anlaufpunkte. Und so setzte er sich in die kühle Kirche, roch den Weihrauch aus einer eben beendeten Messe und wurde ruhiger. Er glaubte. Das musste er. Sonst wäre er in den Jahren seiner Arbeit schon früher durchgedreht. Irgendetwas gab es, da war er sich sicher. Mit der Kirche, ausgerechnet mit der, hatte er nichts am Hut. Aber an diesem Tag, an dem er nicht mehr atmen konnte, hatte diese Kirche ihm Obdach gegeben, ihn auf eine obskure Art und Weise getröstet. Und so war er immer in den letzten Jahren, wenn es schlimm wurde, in eine leere Kirche gegangen. Ein Ritual – mehr nicht.
    Aber heute konnte er das nicht. Er blickte noch einmal auf das Tal. Er sah die weiße Kirche und den Friedhof, wo das leere Grab seines Vaters lag. Seine Beine wurden schwach. Er kippte nach vorn und wäre um Haaresbreite in sein eigenes Erbrochenes gefallen. Lumpi war aus dem Wagen gesprungen und hatte sich winselnd mit ihrer Schnauze an seinen Kopf gedrückt. Er schob sie sachte beiseite. Tatsächlich folgte sie nur widerwillig und setzte sich auf ihre Hinterbeine. In seinem Kopf rauschten die Gedanken wie Wellen im Sturm an eine Kaimauer. Bilder aus seiner Kindheit. Wie er sich mit seiner Schwester einen Schlitten teilen musste, weil das Geld nicht reichte. Wie die anderen lachten. Die anderen mit ihren Skiern. Ihren bunten Anzügen. Und wie er sich aus dieser Welt herausfraß. Als Polizist wieder in einen Klüngel, eine geschlossene Gemeinschaft geriet. Aber statt zu fliehen, war er hart geblieben. Hatte sich gegen die dumpfe Kumpanei seiner Polizeikollegen immer gesperrt und wurde dank seiner Leistungen, seiner Begabungen nach oben weitergereicht.
    Jetzt hörte er ein Auto, das mit aufheulendem Motor die kurvenreichen Strecke heraufkam. Es war der Wagen seiner Schwester, der kurze Zeit später neben ihm hielt. Er konnte noch immer nicht aufstehen. Es war Quercher auch egal. Seine Schwester kannte ihn so.
    Aber es war nicht sie, die aus dem Wagen stieg. Es war Hannah.
    »Ich kenne das«, sagte sie leise. Sie kniete sich zu ihm und schwieg.
    Quercher rollte sich

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