Querschläger
Überflieger, einer von ihnen hatte mit knapp dreißig bereits eine Professur inne, der andere studierte Mathematik an der Sorbonne. Und beide haben sie die Schule abgeschlossen, ohne in ein Blutbad verwickelt gewesen zu sein, ergänzte Winnie Heller boshaft.
»Haben Sie Nikolas Hrubesch eigentlich gekannt?«, erkundigte sich derweil Verhoeven, der zu Manuela Strohte aufgeschlossen hatte.
Die Angesprochene blieb wie angewurzelt stehen. »Sie meinen …?«
»Ich meine den Attentäter, ja«, sagte Verhoeven.
»Natürlich nicht«, entgegnete Manuela Strohte, und in ihrer Stimme schwang ein Hauch von Empörung mit. »Warum um Gottes willen sollte ich ihn gekannt haben?«
»Na ja«, sagte Verhoeven, »immerhin war er doch im selben Jahrgang wie Ihr Sohn, und wie es aussieht, hat Hrubesch ja auch versucht, Sven …«
»Glauben Sie mir, wir haben nicht die geringste Ahnung, warum er ausgerechnet unseren Sohn für diesen … diesen Irrsinn ausgewählt hat«, fiel Manuela Strohte ihm sogleich aufgebracht ins Wort. »Purer Zufall wahrscheinlich, schließlich kann man ja nie sagen, was in einem so kranken Geist vorgeht.«
»War er mal hier?«
»Was?«
»Ich hätte gerne gewusst, ob Nikolas Hrubesch jemals Gast in diesem Hause gewesen ist«, wiederholte Verhoeven mit schneidender Freundlichkeit. »Nach der Schule, zum Beispiel. Oder auf einer Geburtstagsparty.«
Winnie Heller konnte nicht sagen, warum, aber sie hatte den Eindruck, dass Manuela Strohte irritiert war. Irritiert und irgendwie auch schuldbewusst. Vielleicht, weil sie sich nie zuvor für ihren Sohn und dessen Umgang interessiert hatte und nicht wusste, was sie auf Verhoevens Frage antworten sollte.
»Mein Sohn gibt keine Partys«, sagte sie nach einer Weile, und es klang, als ob sie lediglich Zeit gewinnen wollte. »Und er hat auch nicht viel Kontakt zu Gleichaltrigen. Er … Er ist ein ganz besonderer Junge, wissen Sie? Einer, der nicht … nun ja, dem Zeitgeist entspricht, wenn Sie so wollen.«
Ein Außenseiter, ergänzte Winnie Heller in Gedanken. Einer, mit dem die anderen nichts zu schaffen haben wollen. Genau wie …
»Nikolas Hrubesch hatte ja anscheinend auch nicht allzu viele Freunde«, bemerkte Verhoeven im selben Moment, als habe er ihre Gedanken erraten, und Manuela Strohtes Gesichtsausdruck verriet, dass sie ihren Gast am liebsten aufgespießt hätte für seine Taktlosigkeit.
Sie senkte den Kopf und starrte eine Weile schweigend auf die Spitzen ihrer Wildlederpumps hinunter, als überlege sie, ob sie es unter den gegebenen Umständen überhaupt erlauben solle, dass ein solcher Banause von einem Polizisten mit ihrem Sohn sprach. Andererseits schien ihr auch kein Argument einzufallen, mit dem sich die ungebetenen Gäste wieder hinauskomplimentieren ließen. Also straffte sie ihre knochigen Schultern und marschierte wortlos weiter, offenbar wild entschlossen, diese leidige Angelegenheit schnellstmöglich hinter sich zu bringen.
Mit jedem Schritt, den sie taten, wurde das Klavierspiel lauter, und endlich erinnerte sich Winnie Heller nun auch daran, dass es Chopin war, was sie da hörte. Die Ballade in Fis-Dur von Frédéric Chopin. Und die Musik kam keineswegs vom Band, wie sie zunächst angenommen hatte. Sie blieb hinter ihrem Vorgesetzten stehen und lauschte fasziniert den Klängen, die aus dem Zimmer hinter der weiß lackierten Tür drangen, vor der die Hausherrin gestoppt hatte. Sven Strohte spielte gut. Ziemlich gut sogar. Das konnte sie durchaus beurteilen, immerhin hatten ihre Eltern sie jahrelang zu sämtlichen Vorspielen und Wettbewerben geschleift, an denen Elli beteiligt gewesen war. Auf diese Weise hatte Winnie Heller im Laufe der Jahre unzählige Kinder und Jugendliche Klavier spielen hören. Sie hatte gelernt, die Qualität eines Anschlags einzuschätzen und gleichzeitig auf Musikalität und Originalität zu achten. Begriffe wie »Agogik« und »Fingerpedal« waren ihr in ihrer Jugend ebenso geläufig gewesen wie die Namen und Eigenheiten berühmter Pianisten, die von ihrer Schwester wahlweise als Vorbild oder abschreckendes Beispiel zitiert worden waren.
Sven Strohtes Mutter hatte indessen den kurzen Augenblick der Stille, der auf einen verpatzten Lauf gefolgt war, genutzt und die zweiflügelige Tür aufgestoßen. Dahinter lag ein großzügig geschnittenes Wohnzimmer, vor dessen bodentiefen Fenstern eine alte Linde wuchs, die den Raum in schattige Gemütlichkeit tauchte. Der Garten, oder zumindest das, was Winnie Heller davon
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