Querschläger
Sie hatte im Internet gelesen, dass für Paintball-Markierer ähnlich strenge Auflagen galten wie für normale Schusswaffen und dass man sie in verschlossenen Behältnissen und getrennt von der dazugehörigen Munition transportieren musste. Und da er die Dinger ohnehin nur hier draußen benutzen konnte, schlussfolgerte Jessica Mahler, hat er sie wahrscheinlich gleich von vornherein hier gelassen! Und wenn sie die Markierer fand …
Sie öffnete eine der beiden Türen, die vom oberen Treppenabsatz abgingen, und registrierte flüchtig ein weiteres Doppelbett unter einer Schräge mit Dachfenster, während ihre Gedanken zu Sven Strohte zurückkehrten, der genau wie sie in diese Hütte gekommen war, um dazuzugehören. Etwas, das sie wunderte, denn eigentlich hatte sie immer angenommen, dass Sven sich einen feuchten Kehricht darum scherte, was seine Umgebung über ihn dachte. Dass er stark war, auf seine ganz eigene Art und Weise. Insgeheim hatte sie sogar vermutet, dass er alle anderen irgendwie verachtete, dass er die Schwächen seiner Mitschüler erkannte und sich im Stillen über sie lustig machte, und je länger sie über die ganze Sache nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es ihr vor, dass er mit Lukas Wertheim und Steven Höhmann gegangen sein sollte, um vielleicht eines fernen Tages zu deren illustrem Freundeskreis zu gehören. Diese Art von Ehrgeiz schien Sven Strohte nicht zu besitzen. Oder doch?
Aber würde er sich in diesem Fall nicht mehr Mühe geben, dem Zeitgeist zu entsprechen?, überlegte sie. Würde er nicht versuchen, anders zu sein? Normaler?
Nichtsdestotrotz hat er dir erzählt, dass er hier gewesen ist, dachte sie. Und auch, dass Lukas und Steven ihn mit Farbpatronen beschossen haben.
Sie fuhr erschreckt zusammen, als ein Stockwerk unter ihr die Tür der Hütte ins Schloss krachte. Sie hatte sie ganz bewusst nur angelehnt, weil sie es nicht ertragen hätte, sich in diesen Räumen aufzuhalten und gleichzeitig zu wissen, dass die Tür, die sie von der erlösenden Waldluft trennte, geschlossen war. Und nun war diese Tür … Was denn eigentlich? Zugefallen?
Zugemacht worden?
Vermutlich der Wind, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Aber war es denn überhaupt noch windig? Sie blieb stehen und überlegte, wie es gewesen war, draußen. Auf dem Weg hierher. Im Wald. Die Fensterläden zumindest klapperten nicht, aber vielleicht waren sie ja auch nur zu schwer, um irgendein Geräusch zu machen. Zu solide. Und vielleicht stand hier oben ja doch auch irgendwo ein Fenster offen.
Jessica Mahler hielt den Atem an und lauschte in die knisternde Stille ringsum, aber sie konnte beim besten Willen nichts Verdächtiges ausmachen. Das Knacken von Holz, gut und schön. Aber in diesem Haus knackte es andauernd. Immer und überall. Schließlich mussten sich die verdammten Käfer ja so schnell wie möglich durch die dekadenten Wände fressen und …
Nein, da war doch noch etwas anderes!
Ein Geräusch, das vorher nicht da gewesen war!
Sie starrte zur Treppe hinüber. Es war unter ihr, dieses Geräusch, so viel stand fest. Aber wo genau? Im Wohnzimmer? Und was zum Henker war es? Ein Tier? Irgendein Dachs oder Fuchs oder was auch immer, der sich verirrt hatte oder an die Vorräte wollte? Immerhin stand diese blöde Hütte ja mitten im Wald, wie romantisch! Und …
Nein, verdammt, das waren definitiv Schritte!
Jessica Mahler glitt in den Raum, den sie gerade hatte durchsuchen wollen, und zog so leise sie konnte die Tür hinter sich zu. War da wirklich und wahrhaftig jemand im Haus? Auf der Treppe? Oder war es nur ihre Phantasie, die ihr einen Streich spielte? Ihr schlechtes Gewissen, weil sie widerrechtlich hier eingedrungen war …
Sie presste das Ohr gegen das Holz der Tür, während ihre Zähne vor Angst wie wild gegeneinanderschlugen.
Der Schlüssel, dachte sie. Schließ dich ein!
Blind tastete sie sich von der Klinke abwärts, doch ihre zitternden Finger fanden nur ein leeres Schloss vor. Offenbar war Privatsphäre im Gegensatz zu gesellschaftlichem Renommee etwas, auf das es der Familie Wertheim nicht besonders ankam. Jessica Mahler ging in die Knie und spähte durch das leere Schlüsselloch, doch sie konnte nicht viel erkennen. Nichts als ein Stück des schummrigen Treppenabsatzes und die gegenüberliegende Wand. Allerdings fiel ihr bei dieser Gelegenheit siedend heiß ein anderer Schlüssel ein, jener Schlüssel, der noch immer unten im Schloss der Tür steckte und verriet, dass sie da war. Oder
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