Querschläger
zögerliche Schritte in den Raum hinein. Die Fenster der Hütte waren klein und obendrein durch kräftige Holzläden verschlossen, sodass sie ein schummriges Halbdunkel umfing. Natürlich gab es Strom, das Haus verfügte sogar über einen eigenen Generator, aber Jessica Mahler konnte sich einfach nicht dazu durchringen, das Licht einzuschalten. Schlimm genug, dass sie hier so etwas wie einen Hausfriedensbruch beging, da musste sie nicht auch noch extra auf sich aufmerksam machen, auch wenn sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand um diese Uhrzeit hier vorbeikam.
Trotzdem wartete sie geduldig, bis sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und ihre Umgebung an Konturen gewann. Das gemauerte Erdgeschoss bestand im Wesentlichen aus einem Wohnzimmer mit offenem Kamin, vor dem eine rustikale Sitzgruppe aus Ledersofa, Couchtisch und zwei Sesseln zum Plaudern und Kartenspielen einlud. Links führte eine Tür in das klaustrophobisch enge Schlafzimmer, dessen Tapete unter den Mädchen ihres Jahrgangs eine so zweifelhafte Berühmtheit erlangt hatte, und dahinter lag, wie Jessica Mahler wusste, die Küche. Rechter Hand hingegen führte eine breite Holztreppe ins Obergeschoss hinauf. Doch so weit war sie bei ihrem ersten und einzigen Besuch in diesem Haus erst gar nicht vorgedrungen. Lukas und sie waren, im Gegenteil, zur Sache gekommen, kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, und inzwischen hatte Jessica Mahler mehr und mehr das Gefühl, dass sie die ganze Angelegenheit schon damals so schnell wie möglich hatte hinter sich bringen wollen. Aber vielleicht redete sie sich das alles ja auch nur schön. Vielleicht war sie ja tatsächlich verliebt gewesen. Verliebt und dumm. Und willig. Gut möglich, dass sie sich einfach nur nicht mehr daran erinnern konnte.
Sie schluckte und beschloss, mit dem Schlafzimmer zu beginnen, bevor sie endgültig der Mut verließ. Der Raum roch schal und ungelüftet und wurde von einem riesigen Doppelbett im Landhausstil dominiert, über das eine wollene Tagesdecke gebreitet war. Die Tapete war hellblau, wie sie hinlänglich wusste, hellblau mit feinen cremefarbenen Streifen, und an der Wand, die dem einzigen Fenster gegenüberlag, stand ein wuchtiger Kleiderschrank. Jessica Mahler sah sich um und überlegte, wo Lukas Wertheim den Camcorder versteckt haben mochte und warum sie nichts davon bemerkt hatte, in einem Raum, der derart spärlich möbliert war. Machte einen die Liebe, oder zumindest das, was man dafür hielt, denn tatsächlich so blind?
Hastig schob sie den Gedanken beiseite und riss die Schranktüren auf. Zwei zusätzliche Decken, ein Stapel Handtücher und ein paar Klamotten. Ein Tweedjackett mit braunen Lederflicken auf den Ellbogen. Ein paar Pullover, die vermutlich ebenfalls Erich Wertheim gehörten. Dazu eine alte, geschlechtslose Jeans und drei oder vier Flanellhemden. Zwei Paar Gummistiefel. Mottenkugeln … Aber leider, leider, leider keine Videokassette!
Sie verließ das Schlafzimmer und betrachtete die eindrucksvolle Galerie von Tierschädeln, die über dem Kamin hing, weißes Bein mit leeren Augenhöhlen und kleinen Geweihansätzen, ebenso nutz- wie geschmacklos. Bei ihrem ersten Besuch in der Hütte hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt, mit dem nötigen Abstand, kam es ihr vor, als handele es sich eher um Requisiten als um Trophäen im eigentlichen Sinne. Vermutlich das, was irgendeinem weltfernen Nobeldesigner zu einer Vorgabe wie »Jagdhütte« eingefallen war. Wahrscheinlich hat Erich Wertheim noch nie im Leben ein Gewehr in der Hand gehalten, dachte Jessica Mahler verächtlich, als unvermittelt wieder das Bild des schwarz gekleideten Vermummten durch ihre Gedanken zuckte. Und für einen flüchtigen Augenblick hatte sie sogar das Gefühl, das Geräusch der Schüsse zu hören, die durch die Schwüle des Klassenraums peitschten. Das Prasseln des berstenden Fensterglases. Die verzweifelten Schreie ihrer Mitschüler.
Sie dachte an das Gewehr, das sie gesehen hatte, irgendwo hinter der Schulter des schwarz vermummten Schützen. Und an Helen Malgorias, der bei seinem Anblick buchstäblich der Mund offen stehen geblieben war. Er hatte seltsame Augen gehabt, auch das fiel ihr plötzlich wieder ein, fremde Augen hinter den schwarzen Schlitzen. Dabei hätte ich ihn eigentlich erkennen müssen, dachte sie. Schließlich waren es doch angeblich gerade die Augen, die das Wesen eines Menschen
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