Querschläger
Verhoevens Geste kurzerhand überging, und Winnie Heller suchte in seinem Gesicht vergeblich nach etwas, das man als Familienähnlichkeit deuten konnte. Im Gegensatz zu Sven Strohtes asketischer Zartheit waren die Züge seines Vaters weich und formlos. Die teigig wirkenden Wangen hingen schlaff herunter, ebenso wie das Kinn, ein äußeres Erscheinungsbild, das in krassem Gegensatz zu der tatfreudigen Entschlusskraft stand, über die der erfolgreiche Unternehmensberater ganz offenbar verfügte. »Und selbst dann werden Sie sich wohl oder übel noch ein Weilchen gedulden müssen«, setzte er hinzu. »Denn nach allem, was Sie und Ihre Kollegen unserer Familie in den letzten Tagen angetan haben, braucht Sven jetzt erst mal Ruhe.« Oswald Strohte warf seinem Sprössling, der bleich und in sich zurückgezogen in seinem Sessel kauerte, einen bemerkenswert gleichgültigen Blick zu und fingerte dann einen gelben Zettel aus der Brusttasche seines Jacketts. »Hier ist ein entsprechendes Attest unseres Hausarztes«, erklärte er, indem er Verhoeven das Schriftstück über den Couchtisch reichte. »Und jetzt verlassen Sie bitte mein Haus.«
Verhoeven tauschte einen Blick mit seiner Kollegin, aber ihnen beiden war klar, dass sie hier nicht viel weiterkommen würden. Zumindest nicht im Augenblick. Und vermutlich auch nicht ohne offizielle Vorladung. »Ach ja, eine Sache noch«, wandte er sich trotzdem noch einmal zu Sven Strohte um, als sie bereits an der Tür waren. »Würden Sie uns freundlicherweise eine Speichelprobe für einen DNA-Abgleich geben?«
Der Junge starrte ihn an. »Wozu das denn?«
»Um auszuschließen, dass Sie der Vater von Angela Lukoschs Baby sind«, entgegnete Verhoeven, während der Hausherr neben ihm hörbar nach Luft schnappte.
»Sind Sie jetzt total durchgeknallt, oder was?«, fuhr Sven Strohte auf, doch sein alter Herr brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Schweigen.
»Mein Sohn wird gar nichts tun«, sagte er mit versteinerter Miene. »Es sei denn, Sie kommen uns mit einer richterlichen Verfügung. Und bis dahin haben Sie hier nichts mehr verloren, verstanden?«
14
Hannah_24: Na, wieder da?
Mirandolina: Offensichtlich.
Hannah_24: Und?
Mirandolina: Das war die Kripo da eben an der Tür.
Hannah_24: Im Ernst?
Mirandolina: Nein, ich mache einen blöden Witz.
Hannah_24: Die waren bei dir? Wieso das denn?
Mirandolina: Keine Ahnung. Aber dieser Typ hat ’ne ganze Menge äußerst merkwürdiger Fragen gestellt. Und ich glaube … Oh Mann, ja, ich habe fast das Gefühl, die denken, dass Angels Tod geplant war!
Hannah_24: Hä?! Wie soll DAS denn bitte gehen bei einem Amoklauf?
Mirandolina: Vielleicht war’s ja gar keiner …
Hannah_24: Was meinst du damit, es war kein Amoklauf? Was denn sonst?
Mirandolina: Ich weiß nicht, aber irgendwas an dieser ganzen Geschichte stinkt zum Himmel!!!
Hannah_24: Jetzt mach mal halblang! Wir haben alle die Bilder gesehen. Und es gibt tausend Zeugen. Und nicht zu vergessen: Sie haben Nik gefunden – in schwarzer Kluft und mit einer Kugel im Kopf.
Mirandolina: Ja, schon.
Hannah_24: Wonach, um alles in der Welt, sieht das für dich aus?!
Mirandolina: Ich weiß, dass es von außen betrachtet wie ein ganz normaler Amoklauf aussieht. Aber da muss trotzdem noch was anderes dahinterstecken. Der Typ von der Polizei ist unheimlich auf dem Abstand rumgeritten. Du weißt schon, wie viel Zeit zwischen den Schüssen gelegen hätte und so. Und er wollte auch wissen, ob ich sonst noch was mitbekommen hätte, während ich mich versteckt habe. Wow, ich glaube, das ist eine total heiße Sache!
Hannah_24: Und was hast du jetzt vor?
Mirandolina: Ich werde mich erst mal ein bisschen umhören. Vielleicht finde ich ja was raus.
Hannah_24: Mira?
Mirandolina: Ja?
Hannah_24: Pass auf dich auf, okay?
Mirandolina: Klar. Bis dann!
15
Sie trafen Werner Kröll, den Exmann ihrer toten Schul-Sekretärin, in einem kleinen Café in der Nähe der Schule. Nachdem Verhoeven sein Diktiergerät in der Mitte des Tisches platziert hatte, bestellten sie Kaffee und Mineralwasser und warteten, bis sich die korpulente Kellnerin wieder Richtung Tresen davon schleppte.
»Wo waren Sie, als der Amoklauf begann?«, fragte Verhoeven, als sie außer Hörweite war.
»Im Neubau«, antwortete Kröll ohne Zögern. Er war ein erstaunlich gut aussehender und für einen Hausmeister bemerkenswert zierlich gebauter Mann Ende dreißig mit wachen braunen Augen und dichtem Blondhaar. Zur grauen Anzughose trug
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