Querschläger
nickte. Dieser merkwürdige Alte hatte recht! So ein Amoklauf machte Schlagzeilen. Sie selbst war schon mehrfach von Reportern angerufen und um eine Stellungnahme gebeten worden, ohne dass sie auch nur die geringste Ahnung hatte, wie diese Leute auf sie und ihre Freundschaft zu Beate verfallen waren. Darüber hinaus hatten viele Zeitungen bereits am Tag nach der Tragödie Fotos der Todesopfer veröffentlicht, unter denen Kommentare wie Schulsekretärin Beate S., t 44 oder Bibliotheksopfer Beate S. prangten. Und Beates Adresse stand im Telefonbuch! Ein potenzieller Einbrecher könnte sich hier relativ sicher fühlen, dachte Nicole Herrgen unbehaglich. Er müsste nur wissen oder beobachtet haben, dass niemand sonst in dieser Wohnung lebt, und …
»Die ahnen ja gar nicht, was sie da anrichten, diese verdammten Pressegeier«, knurrte der Alte im selben Augenblick, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Ich sage Ihnen, irgendwann fallen hier ganze Scharen von Leichenfledderern ein und lungern herum und fotografieren alles.« Er verzog sein faltiges Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. »Ist alles nur eine Frage der Zeit.«
»Man sollte wirklich diskreter mit diesen Dingen umgehen«, seufzte Nicole Herrgen. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, was auf der offiziellen Trauerfeier los sein wird.«
»Da bleiben Sie besser von vornherein weg«, pflichtete der Alte ihr bei, indem er die Pistolenattrappe in der Tasche seines Jacketts verschwinden ließ und ihr eine knorrige Hand entgegenstreckte. »Oswald Kuhlmann aus dem vierten Stock.«
»Herrgen«, wiederholte Nicole Herrgen, und mit Blick auf das Blumengebinde auf dem Schuhschrank fügte sie hinzu: »Sind die von Ihnen?«
»Bewahre«, kicherte Kuhlmann. »Konnte mich noch nie für so was erwärmen. Zumindest nicht, wenn ich nicht auch schon zu Lebzeiten mal …« Er unterbrach sich, wohl, weil er feststellte, dass er im Begriff war, sich in die Bredouille zu reden. »Werden wahrscheinlich von der Wetzel aus der Mansarde sein«, sagte er hastig. »Die ist so ’ne Hochemotionale.«
Nicole Herrgen schmunzelte.
»Und machen Sie sich keine Sorgen wegen dieser Freaks«, setzte Kuhlmann hinzu, indem er langsam durch die Diele davon humpelte. »Ich hab ein Auge auf die Wohnung, da können Sie sich drauf verlassen.«
»Danke«, rief Nicole Herrgen, als ihr unvermittelt wieder das Handy einfiel, das sie noch immer in der Hand hielt. Sie hob grüßend die Hand, als Kuhlmann sich an der Tür noch einmal zu ihr umdrehte, und machte sich dann eilig daran, ihren Mann zu beruhigen.
5
»Stimmt es, dass Sie – genau wie Ihr verstorbener Freund – auf Hetzjagden in freier Wildbahn abfahren?«
Steven Höhmanns Augen verengten sich, fast so, als blicke er direkt in die pralle Sonne. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Verhoeven schob sein Diktiergerät ein Stück näher an ihn heran. »Vielleicht bezeichnen Sie es lieber als Paintball.«
»Das ist ein ganz regulärer Sport«, entgegnete Lukas Wertheims bester Freund betont gelassen. »Übrigens sogar ein Teamsport. Es gibt mehrere Regional- und sogar eine erste und zweite Bundesliga. Ganz wie beim Fußball.«
»Bloß, dass Fußballer in der Regel keine Exekutionen simulieren.«
»Exekutionen?«
»Wie würden Sie das nennen, wenn Sie im Schlamm knien und ein anderer Ihnen eine Waffe an den Kopf hält?«
»Woher haben Sie das denn?«
»Unwichtig«, wehrte Verhoeven ab. »Sagen Sie mir lieber, ob es der Wahrheit entspricht.«
»Natürlich nicht.« Steven Höhmanns Züge waren eben, aber irgendwie uncharakteristisch.
Ein typisches Agentengesicht, dachte Winnie Heller. Eine Brille, andere Zähne oder auch nur eine andere Haarfarbe, und schon würde dieser Junge völlig anders aussehen …
»Sie haben niemals einem anderen eine Waffe an den Kopf gehalten, um ihn dazu zu bringen, seine eigene Kotze zu fressen?«, fragte Verhoeven, indem er sich über den Tisch lehnte.
Steven Höhmann lachte. »Sind Sie verrückt?«
»Ihr Freund auch nicht?«
»Das glaube ich kaum.«
»Sie glauben?«
»Ich habe nicht alle Spiele mitgemacht.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass bei den Partien, bei denen ich dabei war, alles nach den gängigen Regeln ablief.«
Dieser Mistkerl versucht, die Verantwortung auf seinen toten Kumpel abzuwälzen, dachte Winnie Heller mit einem Anflug von Ekel.
»Sie wissen aber schon, dass Sie gegen das Gesetz verstoßen,
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