Querschläger
erklärt, wer sie war und wo sie sich befand.
Dann war sie losgerannt.
Wer bei drei nicht auf den Bäumen ist …
Beim Rennen hatte sie ihr Handy fallen lassen, es war ihr einfach aus den blutigen Fingern gerutscht, plopp, patsch, hinunter in den zähen Waldschlamm, aber sie hatte nicht gewagt, umzukehren, sondern war weitergestürzt, mitten hinein in das dichte Unterholz, das seitlich der Hütte wucherte. Dornenranken hatten nach ihren Füßen geschnappt wie Fangarme. Sie hatten sich in ihre Jeans gekrallt, sie war gestolpert, gerutscht und geschlittert, um schließlich hier unter diesem … Sie blickte angestrengt nach oben … Unter diesem Hasel(?)strauch zu landen, den Hintern im Schlick, verschmiert und hilflos. Die Feuchtigkeit des Waldes drang durch den Stoff ihrer Jeans, sickerte in die Nähte ihrer Schuhe, verwandelte ihre Beine in gefühllose, klamme Stümpfe, und doch konnte sie nicht anders, als hier auf dem kalten Boden sitzen zu bleiben und zu warten, dass endlich die Sirenen ertönten. Dass sie kamen, um sie zu retten. Ein weiteres Mal zu retten.
Die Waldluft um sie herum wog Zentner. Eisig kalt auf einmal, mit so viel Feuchtigkeit darin, dass sie kaum atmen konnte. Dazu hörte sie Geräusche, aber die schienen von innen zu kommen. Nicht von außen. War das ihr Herz? Ihr Blut, das sie hörte? Etwas knirschte. Zähne vielleicht. Vielleicht auch Wald. Tote Äste. Wildschweine. Was auch immer …
Wann hört das auf?, dachte sie zitternd vor Angst und Kälte. Wie lange kann man so leben, in diesem irrwitzigen Tempo? Wie viele Katastrophen erträgt ein Mensch? Und wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass es dich eines Tages doch erwischt? Sie schloss die Augen, als aus der Dunkelheit um sie herum kleine rote Lostrommelkugeln auf sie zuschossen, und versuchte, sich eine Welt vorzustellen, in der alle tot waren. Alle außer ihr selbst. Seltsamerweise bedrängte sie der Gedanke nicht. Zumindest nicht im Augenblick. Wenn alle tot sind, dachte sie, gibt es auch keine Feinde. Niemanden, der einem nach dem Leben trachtet.
Sie machte die Augen wieder auf und stellte überrascht fest, dass sie sehen konnte. Richtig sehen, ohne Lostrommelkugelhagel.
Du solltest von hier verschwinden, pochte es hinter ihrer Stirn. Verlass diesen Ort. Wer weiß, ob sie je kommen. Vielleicht hast du dir das alles nur eingebildet. Das Blut. Und den Notruf. Und die Stimme der fremden Frau in deinem Ohr. Nimm dein Schicksal endlich in die eigenen Hände und mach, dass du wegkommst von hier!
Aber dazu müsste ich aufstehen, überlegte sie. Meine Deckung verlassen. Sichtbar werden. Ein Ziel …
NEIN!
Auf keinen Fall! Bleib sitzen! Sei still!
Du wirst dir die Nieren verkühlen, dachte sie, du wirst dir einen Schaden fürs Leben holen, und mit ein paar Sekunden Verzögerung fiel ihr auf, dass es die Worte ihrer Mutter waren, die da durch ihre Gedanken zuckten. Sätze, wie sie sie wohl tausendmal gehört hatte. Immer dann, wenn es um hüfttiefe Jeans und knappe Oberteile und Partys im Freien gegangen war. Du wirst dir einen Schaden fürs Leben holen, wiederholte etwas in ihr, aber das macht nichts. Alles ist besser als sterben. Abgeknallt werden. Von diesem irren Schlächter, der …
Ein entferntes Geräusch veranlasste sie, den Blick zu heben, und für einen flüchtigen Augenblick war ihr, als nehme sie ein Licht wahr. Das Zucken von Scheinwerfern zwischen den hohen Stämmen.
Kamen diese Scheinwerfer etwa auf sie zu? Näherte sich da jemand? Die Polizei?
Komm schon. Komm endlich, bittebittebitte …
Aber die Polizei kam doch nicht mit einem einzelnen Auto, noch dazu mit einem dunklen! Grün-silbern, seit neuestem auch blau-silbern, EU-Richtlinie, hatte sie vor kurzem irgendwo gelesen. Jessica Mahler nickte stumm vor sich hin, um sich Mut zu machen. Ihren eigenen Empfindungen trauen. Ihren Erinnerungen an die Normalität, der letzten Barrikade gegen den nahenden Wahnsinn. Die Polizei war blau-silbern, aber das Ding, das da durch die Dunkelheit auf sie zu holperte, war dunkel, ganz und gar dunkel hinter den milchigen Scheinwerfern, die unstet über die zahllosen Schlaglöcher hüpften. Und ein Martinshorn hörte sie auch nicht. Nicht einmal so was wie Blaulicht begleitete dieses Ding hinter den Scheinwerfern. Dabei konnte man so was doch auch problemlos auf die zivilen Fahrzeuge setzen, oder nicht? Oder funktionierte dergleichen nur im Film? Fenster runter, Licht aufs Dach, Fenster zu.
Verkühlte Nieren …
Lenk nicht
Weitere Kostenlose Bücher