Querschläger
abzulegen, und wenn er es nicht gerade am Gürtel trug, lag es griffbereit auf dem Nachtschrank oder auf dem Couchtisch oder sonst wo in seiner Nähe. Ein Blick auf das Display verriet ihm, dass es Hinnrichs höchstpersönlich war, der anrief.
»Ja?«
»Eben ist ein Notruf von einer gewissen Jessica Mahler eingegangen«, meldete der Leiter des KK11, und seine Anspannung war mit Händen zu greifen. »Das Mädchen war in Hrubeschs Jahrgang und behauptet, in der Waldhütte von Lukas Wertheims Vater über eine Leiche gestolpert zu sein. Holen Sie die Heller ab und fahren Sie sofort da raus.«
»Bin schon unterwegs«, rief Verhoeven und sprang auf.
10
Als sie die Autotür zuschlagen hörte, rutschte Jessica Mahler noch tiefer unter die Zweige, die sie schützen sollten und die mit einem Mal geradezu erbärmlich löchrig wirkten. Sie fühlte einen Widerstand in ihrem Rücken und Nässe, die ihr von irgendwo her in den Nacken schwappte. Ende. Aus. Sackgasse. Ihre Augen suchten die Stelle, wo die Scheinwerfer des ankommenden Wagens verloschen waren, doch die Düsternis des Waldes verschluckte alles. Erst als sich wenig später der Mond wieder einmal für einen kurzen Moment durch die Wolken kämpfte, sah sie eine Silhouette. Einen Schatten.
Ein Mann, ganz eindeutig.
Einer, der im Gegensatz zu ihr wagte, seine Taschenlampe zu benutzen.
Der dünne Lichtstrahl flimmerte über die Pfützen, direkt auf die Hütte zu.
»Jessica?«
Jessica Mahler hielt die Luft an und beobachtete den Schatten hinter dem Lichtstrahl, der einen Augenblick vor den Stufen der Veranda verharrte.
»Jessiiiiiie?«
Wessen Stimme war das? Sollte sie diese Stimme nicht kennen? Jessica Mahler schluckte. Mirja, dachte sie. Mirja Libolski hat mich auch so gerufen, letzten Dienstag erst, kurz nachdem die Schüsse verklungen waren. Ganz genau so. Wie hatte sie reagiert, letzten Dienstag? Hatte sie überhaupt reagiert? Sie überlegte fieberhaft, aber sie wusste es nicht. Allmählich wusste sie gar nichts mehr. Aber sie hatte definitiv etwas getan, das richtig gewesen war. Immerhin lebte sie noch und …
»Jessie?«
Und noch mal. Und immer wieder. Déjà vu …
Jessica Mahler sah hinauf in die dürren Haselzweige über ihrem Kopf. Sollte sie vielleicht doch antworten? Sich zu erkennen geben? Hoffen, dass es ein weiteres Mal gut ausging für sie?
Nein, auf keinen Fall, sei still!
Nicht antworten. Nicht schlucken. Nicht einmal denken. Du bist gar nicht hier. Du bist ganz woanders. Und die Vespa da drüben beim Grillplatz ist auch nicht deine. Sie gehört deinem Cousin. Gunnar, neunzehn, Lehrling. Er wird dir die Hölle heiß machen wegen dem Matsch an den Rädern. Aber das macht nichts. Alles ist besser, als abgeknallt werden. Oder Tante Karen zu hintergehen. Oder Mama zu enttäuschen. Tote Rehe machen keine Geräusche. Und Rosmarin bedeutet so viel wie »Tau des Meeres«. Nichtsdestotrotz müsste es schön sein, hier zu frühstücken. Hier, wo man schon beim Aufwachen den Wald riechen kann. Auf der Veranda …
Die Veranda …
Veran …
Sie riskierte einen Blick und stutzte, als sie die hölzernen Dielen leer fand. Hatte er denn nicht vor wenigen Sekunden noch dort gestanden? Jessica Mahler runzelte die Stirn, während ihr Gesichtsfeld langsam auf den winzigen Ausschnitt der Veranda zusammenschrumpfte. Tunnelblick, auch erprobt. Da war die Brüstung, rustikal, moosig. Die Tür weit geöffnet. Scharf stellen. Und …
Ja, da war er!
Gerade in diesem Moment trat er über die Schwelle, nein, er trat nicht, er stürzte, rannte, stolperte, das bleiche Gesicht leuchtete ihr im Mondlicht entgegen, hell wie die Sonne, und endlich wusste sie nun auch, wen sie vor sich hatte. Doch da war er bereits wieder unter den Bäumen verschwunden.
11
»Da vorn muss es sein«, murmelte Winnie Heller und lenkte ihren Polo in einen schlaglöchrigen Waldweg, der direkt vor einem repräsentativen Wochenendhaus endete.
Aus der Finsternis über ihr rieselte Laub herab, und die Wischerblätter quietschten mit enervierender Gleichmäßigkeit über die Windschutzscheibe. Winnie Heller drehte die Heizung herunter und war froh, dass sie in der Hektik des Aufbruchs an ihren Schal gedacht hatte. Sie war gerade auf den Parkplatz des Präsidiums eingebogen, als der Anruf gekommen war. Also hatte sie kehrtgemacht und war Verhoevens Wegbeschreibung zu Erich Wertheims Jagdhütte gefolgt, aber obwohl sie noch keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre These zu überprüfen,
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