Querschläger
alles, was sie sich merkt, ist, dass er ein dunkelblaues Basecap aufhatte!
»Ich muss das alles so schnell wie möglich vergessen«, flüsterte sie beschwörend vor sich hin, während sie langsam, Schritt für Schritt, auf ihren Polo zusteuerte. Wenn ich diese Sache nicht aus dem Kopf kriege, wird alles nur noch schwieriger.
Und was war denn schließlich auch schon groß passiert?
Sie öffnete die Fahrertür und ließ ihren geschundenen Körper in die weichen Polster fallen. Eine abgeschürfte Schulter. Eine kaputte Bluse. Und wenn schon! Ihre Hand berührte ihren Hinterkopf, dann den Nacken. Als sie die Finger zurückzog, waren sie blutig. Aber nicht sehr. Es schien tatsächlich nicht allzu schlimm zu sein. Vorausgesetzt, der Kerl, der über sie hergefallen war, hatte kein Aids oder so was. Winnie Heller starrte aus dem Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus, bis ihr einfiel, dass die Türen zur Außenwelt noch immer offen waren. Hastig drückte sie auf den Knopf für die Zentralverriegelung, und ringsum schnappten die Schlösser zu. Jetzt war sie in Sicherheit. Endgültig in Sicherheit. Davongekommen, wie es so schön hieß. Irgendwie zumindest …
Sie kramte eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach und tastete nach der alten Strickjacke, die sie auf dem Rücksitz liegen hatte, für Notfälle, falls es im Präsidium wieder einmal später wurde oder eine Erkältung sich durch vermehrtes Frieren ankündigte. Dann zupfte sie ihre Bluse zurecht, so gut es eben ging, zog die Jacke über und säuberte mit Hilfe der Taschentücher Nacken und Hände, während ihr Verstand überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wohin sie fahren konnte, um nicht allein zu sein mit sich und ihrem Erlebnis.
Sie dachte auch darüber nach, wie es weitergehen würde, morgen, übermorgen, nächste Woche. Wann die Schmerzen nachlassen würden. Und die Angst.
Erst als ihr klar wurde, dass sie sich noch immer nicht viel weiter als ein paar lächerliche Meter von dem Ort, an dem sie überfallen worden war, entfernt hatte, steckte sie den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Wagen.
8
Als Verhoeven ins Wohnzimmer zurückkehrte, telefonierte Silvie noch immer. Allerdings bedeutete sie ihm mit hektischen und durchaus auch etwas schuldbewussten Gesten, dass ihre vortreffliche Schwester jeden Augenblick zu einem wie auch immer gearteten Ende kommen musste.
Während er den quälend langen Redepausen und den kurzen, spotlightartigen Einwürfen seiner Frau lauschte, dachte Verhoeven über die Frage nach, aus welchem Grund ein so begabter Mensch wie Silvie sich seiner älteren Schwester derart unterlegen fühlen konnte und wie viel von dem, was sie tat, einzig und allein zu dem Zweck geschah, Madeleine auszustechen. Zugegeben, Madeleine Leonidis war schön, klug und erfolgreich. Aber seine Frau verfügte nicht nur gleichfalls über all diese Vorzüge, sondern besaß darüber hinaus etwas, das viel wertvoller war als alles, was Madeleine zu bieten hatte: Charisma. Er sagte es ihr häufig, aber für gewöhnlich lächelte Silvie in solchen Augenblicken nur und fühlte sich weiterhin minderwertig. Er sah zu ihr hinüber, aber sie blickte nicht auf, sondern zeichnete mit dem Zeigefinger der freien Hand ein imaginäres Muster auf die Sofakante. Manchmal fragte er sich, ob zwischen Silvie und Madeleine irgendwann einmal etwas Konkretes vorgefallen sein mochte, etwas, das den unsichtbaren Bruch verursacht, das Vertrauen zerstört und aus zwei liebenden Schwestern erbitterte Rivalinnen gemacht hatte. Zwar hatte er bislang nichts dergleichen in Erfahrung bringen können, aber sie hatten auch noch nie explizit darüber gesprochen. Wir wissen im Grunde viel zu wenig über die Menschen, mit denen wir unser Leben teilen, dachte er, und auf einmal hoffte er inständig, dass sie noch genügend Zeit haben würden, das zu ändern …
»Ja, ganz bestimmt. Das werde ich«, versicherte seine Frau ihrer Schwester indessen zum x-ten Mal. »Also entspann dich jetzt und schlaf … Was? … Aber sicher, richte ich aus.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Ja, wie gesagt. … Euch auch. … Gute Nacht.«
»Was ist eigentlich los?«, fragte Verhoeven, nachdem Silvie das Gespräch mit ihrer Schwester zum zweiten und hoffentlich auch endgültig letzten Mal an diesem Abend beendet hatte. »Hat Miss America ein Einschlafproblem, oder wollte sie dir einfach nur von den neuesten Großtaten ihrer hochbegabten Brut berichten? … Oh nein, warte, lass mich raten: Stockholm
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