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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Blättern leise zu wabern begann, und registrierte mit Erleichterung, dass es nach einem kurzen Augenblick des Flackerns wieder an Schärfe gewann. Der Schlag, der sie getroffen hatte, konnte sie kaum länger als ein paar Sekunden außer Gefecht gesetzt haben, trotzdem hatte sie das unbequeme Gefühl, dass ihr jegliches Zeitempfinden abhanden gekommen war.
    Einen kurzen, rettenden Moment lang konzentrierte sie sich ganz auf das, was sie sah. Blätter im Wind. Zweige und Nacht. Dann fiel ihr ein, dass sie sich wehren musste. Dass sie nicht so einfach hinnehmen durfte, was da gerade mit ihr geschah, und sie begann, sich unter dem Gewicht seines Körpers zu winden.
    Er reagierte, indem er ihren Kopf noch fester auf den bröckeligen Asphalt drückte. Ein spitzer Gegenstand bohrte sich in Winnie Hellers Nacken, aber selbst der Schmerz erreichte ihr Bewusstsein erst mit einer gewissen Verzögerung. Unterdessen fühlte sie seinen Atem auf ihrem Gesicht, und das Erste, was ihr ins Bewusstsein drang, nachdem sie seine Gegenwart als gegeben hingenommen hatte, war der Umstand, dass er nicht nach Alkohol roch. Das fand sie bemerkenswert und irgendwie auch beunruhigend, wahrscheinlich, weil es bedeutete, dass er sein Handeln unter Kontrolle hatte. Dass er mit voller Absicht tat, was immer er vorhatte. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick, zerrte er mit der freien Hand an seinem Gürtel …
    Sie hörte das Klirren der Schnalle, während der Druck seiner anderen, der rechten Hand ihr fast den Kiefer brach. Über ihnen flackerten die Blätter im Wind, die lackierten genauso wie die schwarzen, aber die Betrachtung dieses banalen Schauspiels bot keinen Schutz mehr. Die Realität ließ sich nicht länger ausblenden. Winnie Heller registrierte den Geschmack von Blut auf ihrer Zunge und hoffte inständig, dass es ihr eigenes wäre. Unter Aufbietung sämtlicher Kräfte warf sie den Kopf herum, schüttelte die Hand, seine Hand, ab, wenigstens für einen winzigen Augenblick, und schnappte nach Luft.
    Hier unten am Boden war es kühl, viel kühler, als sie erwartet hätte. Das ist kein Moment, um zu frieren, dachte sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Fassungslosigkeit über das, was sie fühlte. In einem Augenblick wie diesem müssten ganz andere Empfindungen vorherrschen. Schmerz. Panik. Wut. Etwas, das genug Energie freisetzt, um zum Angriff übergehen zu können. Aber alles, was sie fühlte, war Kälte.
    Eine eisige, allumfassende Kälte.
    In wachsender Verzweiflung versuchte sie, sich selbst zu erspüren, ihre Konturen, die Stelle, an der sie aufhörte und er anfing, aber zumindest ihre Arme schienen ganz und gar abgetrennt vom Rest ihres Körpers, ertaubt unter dem Gewicht, das auf ihnen lastete. Oder? War da nicht doch ein leises Kribbeln? Winnie Heller schloss die Augen und bemühte sich, ihre Finger zur Faust zu ballen, und sie hatte den vagen Eindruck, dass es ihr gelang. Aber reichte das? Hatte sie überhaupt eine Chance? In dieser Situation? Buchstäblich am Boden? Ohne Waffe? Ohne alles?
    Während ihre Gedanken hin und her sprangen und eine tiefe Mutlosigkeit von ihr Besitz ergriff, registrierte sie, wie er an den Knöpfen ihrer Bluse riss, dann etwas Raues auf ihrer Haut, kein Stoff mehr zwischen ihr und ihm, Nacktheit, Schutzlosigkeit.
    Mama!, schrie etwas tief in ihr. Lass es vorbei sein. Bitte, bitte, bitte, mach, dass es aufhört!
    Im selben Moment bemerkte sie ganz in ihrer Nähe eine Veränderung. Nahm etwas wahr, das sie zunächst nicht einordnen konnte. Stimmen vielleicht. Stimmen und Licht. Gleißende Helligkeit. Sie zuckte so heftig zurück, dass ihre Halswirbel krachten. Fühlte den Druck seiner Hände, der sich ein wenig zu lockern schien. Dann wieder Licht, plötzlich und grell, das wie ein weiß glühender Nagel in ihre Pupillen fuhr und anschließend irgendwo in ihrem Kopf explodierte.
    Das Nächste, was sie wahrnahm, war, dass er fort war. Weg. Verschwunden. Und auch von dem Licht, das ihn vertrieben hatte, vertrieben haben musste, war nur noch ein ferner Abglanz zu sehen, der schwächer und schwächer wurde und schließlich ganz verschwand. Autoscheinwerfer, dachte sie. Jemand ist gekommen. Hierher. Zu einem der Wagen. Auf dem Weg nach Hause. Oder sonst wohin. Ein paar fremde Leute, die längst wieder fort sind und deren Identität ich niemals erfahren werde, haben mir gerade das Leben gerettet.
    Sie blieb liegen.
    Reglos.
    Lauschte.
    Durchforstete die Dunkelheit, die sie umgab, nach Informationen.

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