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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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überwältigendes Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen. Aber er hielt sich zurück. Seit ein paar Monaten tat Nina sich zunehmend schwer mit dem Einschlafen, und er wollte sie auf keinen Fall wecken. Also saß er einfach da und sah zu, wie sich die leichte Baumwolldecke unter ihren regelmäßigen Atemzügen senkte und hob, und je länger er seine schlafende Tochter betrachtete, desto mehr hatte er das Gefühl, dass sie zu kurz kam. Dass er sich nicht genug um sie kümmerte. Dass vieles von dem, was sie bewegte, was sie dachte und fühlte und was ihr Leben prägte, an ihm vorüberging. Manchmal, wenn sie einen Fall hatten, kam er nur zum Schlafen nach Hause. So wie heute. Und wofür? Verhoeven schüttelte den Kopf, als sich unvermittelt die alte Frustration wieder Bahn brach. Die Enttäuschung über die fehlgeschlagene Ermittlung, über den Rückschlag, den sie erlitten hatten. Den Misserfolg. Er wusste, dass solche Phasen zu seiner Arbeit gehörten, einer Arbeit, die er trotz allem aufrichtig liebte, aber er ertappte sich auch immer häufiger dabei, wie er nach Abschluss eines Falls versuchte, die verlorene Zeit wieder einzuholen, indem er sich ganz auf die Familie konzentrierte. Ihm war durchaus bewusst, dass manche Kollegen ihn deswegen für spießig hielten, und es war ihm auch nicht entgangen, dass sich hinter seinem Rücken gewisse Verbindungen ergeben hatten, an denen er – anders als früher – nicht mehr teilhatte. Verbindungen, die einem in einer verzwickten Lage nützlich sein konnten und die auf gemeinsamen Kneipenbesuchen, auf zwanglosen Tennismatches oder Kneipenbummeln oder Pokerabenden basierten, zu denen ihn schon lange niemand mehr einlud.
    Vielleicht haben sie recht, dachte er, vielleicht bin ich das wirklich, ein Spießer.
    Aber seine eigene Kindheit war nun einmal derart turbulent verlaufen, so gänzlich ohne Halt und Mittelpunkt, dass er sich bereits am Tag ihrer Geburt vorgenommen hatte, seiner Tochter ein stabiles Umfeld zu schaffen. Eines, das Rückhalt und Sicherheit vermittelte. Meine Kinder sollen unbesorgt aufwachsen können, dachte er, wobei er verwundert feststellte, dass er unbewusst den Plural verwendet hatte.
    Meine Kinder …
    Er sah wieder Ninas zartrosa Lippen an, die sich leise bewegten, als gäbe es selbst noch im Schlaf tausend Dinge, die sie der Welt unbedingt mitteilen musste. Silvie und er hatten nie explizit über weiteren Nachwuchs gesprochen, aber als seiner Frau vor ein paar Jahren eine kleine Erbschaft zugefallen war, hatten sie ein Haus gekauft, in dem es drei Kinderzimmer gab. Derzeit nutzte Silvie einen der beiden freien Räume als Arbeitszimmer, der andere stand leer. Falls wir mal Gäste haben, sagte sie immer, wenn wieder einmal die Rede darauf kam, aber in der Praxis hatten sie nur äußerst selten Logierbesuch. Sein Beruf ließ ihm viel zu wenig Freiraum, als dass er irgendwelche Kontakte hätte pflegen können, und die Kollegen, mit denen er sich gut verstand, wohnten alle in erreichbarer Nähe. Silvies Eltern hingegen besaßen eine Villa im vornehmen Langen, nur rund eine halbe Stunde Fahrtzeit entfernt, und ihre Schwester Madeleine bewohnte zusammen mit ihrem Mann Costas und ihren vier wohlgeratenen Kindern ein komfortables Einfamilienhaus in Frankfurt. Wann immer man einander besuchte, fuhr man anschließend wieder nach Hause.
    Verhoeven hob Hobbson, Ninas innig geliebte Plüschschnecke, die irgendwann an diesem Abend aus dem Bett gefallen sein musste, vom Boden auf und setzte sie neben das frisch bezogene Kopfkissen. Dann stand er auf, ließ die Tür einen Spalt offen, damit seine Tochter sich nicht allzu sehr fürchtete, wenn sie aus irgendeinem Grund plötzlich erwachte, und ging wieder ins Erdgeschoss hinunter.
    7
    Winnie Hellers Blick krallte sich in die Zweige des Baumes hoch über ihrem Kopf. Ein paar von ihnen hoben sich nur schemenhaft vom samtschwarzen Nachthimmel ab wie ein Geflecht düsterer Adern, auf andere fiel von irgendwo her das Licht einer Straßenlaterne. Winnie Heller sah Blätter, die sich im Wind bewegten, sah sie gestochen scharf und detailreich, als habe sie eine unsichtbare Lupe vor Augen. Die leise Brise, die an diesem Abend über den Rheingau strich, spielte mit ihnen, und das künstliche Licht der Laterne ließ ihre Oberfläche unnatürlich glänzen. Es sah aus, als seien sie lackiert.
    Lackiert wie die Fingernägel ihres Flittchens.
    Abgeblättert, dachte sie. Eingerissen. Enttarnt …
    Sie blinzelte, als das Bild von den

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