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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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ja auch schon dazugehört. Zu … dieser Sache. Zu … dem anderen. Miranda Kerr schluckt und muss urplötzlich husten. Nein, bloß nicht, auf keinen Fall!
    NICHT JETZT!
    Jetzt muss sie still sein. Ganz still. Atmen. Ablenken. Konzentrieren.
    Okay, also da waren diese Fehlzündungen gewesen, zunächst. Nichts Besonderes, so ein seltsames Knallgeräusch eben. Eins oder mehrere. Keine Ahnung. Jedenfalls weit weg von ihr. Dann eine kurze, unwirklich anmutende Stille, nur durchbrochen von Angela Lukoschs Kotzen. Danach die Klospülung. Und schließlich der Wasserhahn. Spotlights, an denen sich ihre Erinnerung entlang hangeln kann. Vom Ausbruch der Katastrophe rückwärts. Sie schließt die Augen und sieht Angelas Rücken im Schummerlicht des Vorraums, gebeugt über das Waschbecken, die Hände mit den french-manikürten Nägeln direkt unter dem Wasserhahn. Wasser auch im Mund. Und dann war es plötzlich losgegangen. Richtig los. Viele Schüsse, ganze Salven, draußen auf dem Flur. Dann Schreie. Das Geräusch rennender Füße. Schritte. Neue Schreie. Schüsse. Stimmengewirr. Zu diesem Zeitpunkt steht Angels Rücken noch immer vor ihr, erstarrt zur Salzsäule. Sie lauschen in dieselbe Richtung, alle beide. Und dann weiß sie nichts mehr, bis sie auf dem Boden neben der letzten Kabine liegt, der hintersten. Zitternd auf den kühlen Kacheln …
    Aber der Wasserhahn im Vorraum läuft noch immer. Jetzt, nachdem die Schüsse verstummt sind, kann sie ihn auf einmal wieder hören.
    Angel!, denkt sie. Angela …
    Sie lauscht in die pochende Stille hinter dem Wasser. Ist sie noch da, Angela? Steht sie noch immer dort im Vorraum, gleich um die Ecke, vor Schreck wie erstarrt, halb ohnmächtig, unfähig, sich zu bewegen? Steht sie noch immer dort, nur ein paar Meter entfernt?
    Die Schüsse sind verstummt. Seit wann? Lange genug?
    Wo ist Angel?
    Miranda Kerr überlegt, ob sie nach ihr rufen soll. Vielleicht könnten sie einander helfen, irgendwie. Vielleicht weiß Angel mehr als sie selbst. Weil sie etwas gesehen hat. Weil sie stehen geblieben ist, dort am Waschbecken. Weil sie nicht in Deckung gegangen ist. Oder aber sie finden gemeinsam einen Weg zurück, einen Weg aus diesem Albtraum. Miranda Kerr kommt auf die Knie und …
    Halt! Moment! Jetzt hört sie wieder etwas!
    Etwas anderes. Etwas, das nicht der Wasserhahn ist.
    Es kommt auf sie zu.
    Es ist ganz in ihrer Nähe.
    Sehen tut sie nichts. Nur hören. Eine Bewegung. Und neue Schritte. Ein neuer Schuss. Er peitscht durch die Luft und reißt den Wasserhahn brutal in Stücke.
    Miranda Kerr kracht zurück auf den Boden, fühlt die kühlen Kacheln unter ihrem Kinn und bemüht sich nach Kräften, kein Geräusch zu machen. Leise zu sein. Leise genug, damit es an ihr vorbeigeht. Was immer es ist …
    Und noch ein Schuss.
    Und noch einer.
    Als sie es nicht mehr aushält, steckt sie sich die Zeigefinger in die Ohren.
    Flur im zweiten Stock, 12:11 Uhr
    Sie rennen.
    Planlos wie die Lemminge rennen sie hintereinander her, direkt auf den Lauf seiner Waffe zu. Ihre Schreie hallen in seinen Ohren wider, und sie stolpern wild durcheinander, als sie die Maske sehen und sich gegenseitig fast tottrampeln, in dem verzweifelten Bemühen, umzukehren, einen Raum zu erreichen, in dem sie sich verschanzen können. Ihm zu entkommen.
    Ein Junge, den er zumindest im Augenblick nicht näher zuordnen kann, fuchtelt beim Rennen mit den Armen wie ein Kind, das eine Windmühle darzustellen versucht. Es sieht grotesk aus. Findet er.
    Nikolas Hrubesch schießt ein paarmal in die Luft, um ihre Angst noch zu steigern, nicht, um einen von ihnen zu erwischen. Sie sind nichts weiter als tumbe Schießbudenfiguren. Eine stupide Reihe von Pappenten, deren Angst er noch zehn Meilen gegen den Wind riechen könnte.
    Ein paar von ihnen stürzen in den Raum, in dem die Wandkarten für den Geographieunterricht aufbewahrt werden, und knallen die Tür hinter sich zu. Sie hat einen Glaseinsatz, der unter der Wucht erzittert. So etwas nimmt er wahr. Das Klirren von Glas. Winzige Schnipsel eines karierten Schreibheftes auf dem Boden, die von der fliehenden Horde aufgewirbelt werden. Den süßlichen Geruch eines ausgespuckten Kaugummis, Kirschgeschmack, widerlich unecht. Kleinigkeiten, die beweisen, wie sehr ein Hormoncocktail wie der, der in diesen Minuten durch seine Adern rauscht, die Wahrnehmung verändern kann. Den Blick schärfen. Den Ton aufdrehen.
    Er schießt auf die Tür zu den Wandkarten, wie er zuvor schon auf andere Türen

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