Querschläger
geschossen hat. Einfach so. Quasi im Vorbeigehen. Kismet. Russisch Roulette. Was auch immer. Aber vielleicht sind sie ja auch schlau genug, sich von den Türen fernzuhalten. Zumindest ein paar von ihnen.
Die ersten der Flüchtenden haben inzwischen die Treppe erreicht.
Er folgt ihnen, nicht, weil er sie abknallen will, sondern weil er zufällig den gleichen Weg hat. Trotzdem schreien sie. Sie schreien und schreien, auch wenn ihnen klar sein müsste, dass er sie längst erledigt hätte, wenn er es darauf anlegte.
Aber sie scheinen ihr gottverdammtes Hirn ausgeschaltet zu haben, alle miteinander.
Kollektive Verblödung.
Auf die Idee, ihn anzugreifen, kommt niemand. Nicht heute. Nicht, solange er dieser andere ist, der mit der Knarre, der mit der Macht.
Ein Mädchen, von dem er nichts als einen vagen Schatten wahrnimmt, stolpert und fällt ihm genau vor die Füße. In helllichter Panik kriecht sie über das graue Linoleum, bis sie mit Kopf und Rücken zugleich gegen die Wand knallt. Ein sattes, dumpfes Geräusch. Uuuffffff …
Ob er sie kennt, ob er sie je zuvor gesehen hat, kann er nicht sagen. Sie ist nichts als ein Schatten. Ein Ziel. Er hört ihr entsetztes Keuchen, ein hohler, erstickter Laut, als er an ihr vorbei stürmt, und aus den Augenwinkeln sieht er, dass sie sich mit beiden Händen die Ohren zuhält. Die Ohren! Fast hätte er Lust, sich zu ihr umzudrehen und ihr das Hirn wegzublasen für ihre Dummheit. Aber er darf keine Zeit verlieren. Er hat sich ohnehin schon viel zu lange aufgehalten. Um das zu wissen, braucht er nicht einmal auf die Uhr zu sehen. Er tut es trotzdem. Der Doppelpunkt zwischen den beiden Ziffern pulst im Sekundentakt. Zeit, die ihm am Ende fehlen könnte.
Die Polizei ist natürlich längst informiert. Irgendeiner von diesen flüchtenden Idioten wird schon daran gedacht haben, den Notruf zu wählen. Und wahrscheinlich ist bereits jetzt, in diesem Augenblick, ein Sondereinsatzkommando auf dem Weg hierher. Möglicherweise laufen bei n-tv und N24 und all den anderen Sendern, die sich auf Katastrophen wie diese spezialisiert haben, schon die ersten Meldungen über den Ticker. AMOKLAUF IN WIESBADENER GYMNASIUM *** EIN BISLANG UNBEKANNTER TÄTER HAT AM SPÄTEN VORMITTAG IM CLEMENS-BRENTANO-GYMNASIUM IN WIESBADEN (HESSEN) EIN BLUTBAD ANGERICHTET *** LEICHEN ÜBERALL AUF DEN GÄNGEN DER SCHULE *** AUGENZEUGEN BERICHTEN VON MINDESTENS ZEHN TOTEN …
Zehn?
Nur zehn?
Schon zehn?
Nikolas Hrubesch bleibt kurz stehen und lauscht nach Sirenen. Dem Knattern von Rotorblättern, ein eifriges Fernsehteam im Helikopter mit einer Live-Übertragung aus der Hölle. Lautsprechern. Aber er kann nichts hören. Nur das Ticken der Uhr über der Tür zum Treppenhaus. Das allerdings hört er seltsam verstärkt. Genau wie die Klingel vorhin. Zeit, die abläuft.
Keine Sirenen, denkt er. Noch nicht. Aber auch ohne akustische Hinweise auf eine wie auch immer geartete Polizeipräsenz weiß er, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
Während er seinen Schritt beschleunigt, fragt er sich, hinter welcher der Türen ringsum noch Menschen sind. Und er bedauert zutiefst, dass er keine Zeit hat, sich alles ganz genau anzusehen. Sich alle Einzelheiten einzuprägen. Sämtliche Details. Dabei ist ihm klar, dass er mitnehmen muss, was er kriegen kann. Dass er so etwas wie das hier nie wieder erleben wird. Und dass das, was in diesen magischen Minuten geschieht, etwas in ihm verschieben wird. Weit mehr verschieben wird, als er im Vorfeld erwartet hat.
Das, was ihn früher angemacht hat, wird ihn langweilen. Vielleicht wird er für den Rest seines Lebens nach etwas suchen, mit dem sich die Lücke füllen lässt. Aber so was wie das hier wird schwerlich zu toppen sein. Auch das ist ihm klar.
Jetzt.
Erst jetzt.
Seit knapp zwanzig Minuten.
Er denkt an den flatternden Mädchenschatten hinter sich, der seinem Gedächtnis schon fast wieder abhanden gekommen ist, und mit einem Mal kann er beinahe verstehen, warum sich die anderen am Ende eine Kugel in den Kopf jagen …
Raum 304, 3. Stock, 12:16 Uhr
Jessica Mahler hat Angst. Angst, den Kopf zu heben. Zu schauen, ob außer ihr noch jemand am Leben ist. Ich müsste es tun, denkt sie. Gucken. Nachschauen. Handeln. Vielleicht gar helfen oder weglaufen. Genau wie die anderen. Die anderen, die überlebt haben.
Sie hat ihre Schritte gehört, während sie sich hinter einem der umgestürzten Tische auf den Boden gedrückt hat. Flach auf den Boden. Irgendwo hat sie mal gelesen, dass
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