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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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jemand einen Amoklauf überlebt habe, weil er sich tot gestellt hat. Das hat sie damals irgendwie clever gefunden. Und logisch obendrein. Wer schießt schon auf Leichen?!
    Nichtsdestotrotz ist ihr, als sei die Zeit des Abwartens nun vorbei.
    Ich sollte nachsehen, pocht es hinter ihrer Stirn, aber sie ist unfähig, den Kopf zu heben. Also beschränkt sie sich notgedrungen darauf, zu analysieren, was sie gerade empfindet. Angst, ja sicher. Aber es ist eine kalte Angst, ein ganz und gar seltsames Gefühl. Vollkommen anders als alle Angst, die sie kennt. Beinahe erhaben, denkt sie. Rein und klar wie die Luft an einem sonnigen Wintermorgen. Ja, seltsam, sie hat bei allem, was hier geschehen ist, den Eindruck, klar denken zu können. Folgerichtig. Logisch. Nur ihr Körper ist wie taub. Abgestorben. Aber trotzdem irgendwie da.
    Sie fühlt einen Luftzug über ihrem Kopf und denkt an die geborstenen Scheiben. An das prasselnde Geräusch, das die Scherben gemacht haben, als er auf die Fenster geschossen hat. Ihre Augen suchen den Boden ab. Winzige Kristalle allenthalben. Glasbruch. Blut.
    Als er den Raum betreten hat, mußte sie lachen. Und nicht nur sie. Ein dummer Scherz. Eine makabre Maskerade, um ihnen einen Schrecken einzujagen. Irgendwas in dieser Richtung. Aber es ist kein Scherz gewesen. Wann hat sie das eigentlich gemerkt? Gemerkt, dass der Typ Ernst macht?
    Noch vor dem ersten Schuss, so viel steht fest.
    Trotzdem ist da dieses Lachen, das wie festgefroren auf ihren Lippen liegt, obwohl um sie herum bereits geschrien wird. Und fast ist ihr, als lächele sie immer noch …
    Ihre Gedanken halten inne, als sie irgendwo rechts von sich ein leises Wimmern wahrnimmt. Wenn er noch hier ist, müsste er jetzt schießen, denkt sie, während für Sekundenbruchteile wieder das Bild von Frau Malgorias’ explodierendem Gesicht durch ihre Gedanken zuckt. Der Ruck, als das Projektil einschlägt. Das Blut, das vom Hinterkopf der Lehrerin an die Wand spritzt, an der noch immer die Grafik mit dem Glücksrad klebt, die der mit der Lostrommel gefolgt ist. Oder verwechselt sie da was? Ist es gar kein Blut gewesen, was sie gesehen hat? Sind es nur Kugeln, kleine rote Lostrommelkugeln, das dort, an der Wand?
    Sie kann es nicht sagen. Aber hinsehen wird sie auch nicht mehr, das weiß sie genau. Selbst dann nicht, wenn sie davonkommt, wenn irgendwann irgend jemand durch diese Tür dort hinten tritt und sie aus der Hölle befreit.
    Selbst dann wird sie nicht mehr hinsehen.
    Nie mehr.
    Das Wimmern hört nicht auf. Ein leiser, endloser Klageton, der aus der Ecke gegenüber der Tür zu kommen scheint. Und ganz allmählich sickert jetzt auch die Bedeutung dieses Wimmerns in Jessica Mahlers Bewusstsein. Sie ist nicht allein in diesem Raum. Nicht allein am Leben. Nicht allein unter lauter Toten. Verlassen, zurückgelassen von denen, die gerannt sind, geflüchtet, die sich rühren konnten, die funktioniert haben. Da ist noch jemand anders! Jemand außer ihr!
    Ihre Gedanken jagen hin und her. Auf der einen Seite ist da das Bedürfnis nach Nähe. Nach einem Leidensgenossen oder – was angesichts der Stimmlage wahrscheinlicher ist – einer Leidensgenossin. Auf der anderen Seite ist sie sich bewusst, dass sie aufstehen muss, wenn sie etwas sehen will. Heraus aus der Deckung. Schutzlos werden. Ein Ziel …
    Ihr Blick krallt sich in das Glas auf dem Boden. Dazwischen liegt – in geradezu groteskem Orange – eine Mandarinenschale, die sie an Weihnachten denken lässt. An Geschenke und Kerzen. Zimtduft. Nikolaus.
    Lenk nicht ab! Wag es! Steh auf!
    Er ist fort!
    Wenn er hier wäre, hätte er längst geschossen!
    Jessica Mahler tastet nach der Kante eines umgestürzten Tischs und zieht sich daran hoch, bis sie gerade so darüber hinwegsehen kann. Das Erste, was sie wahrnimmt, als sie ihren Kopf über die Kante schiebt, ist der Geruch von Blut. Sie hat noch nie in ihrem Leben Blut gerochen, nur geschmeckt, aber sie findet, dass zwischen Riechen und Schmecken nicht allzu viel Unterschied besteht. Zumindest nicht, was Blut betrifft. Das Zweite, was sich in ihr Bewusstsein drängt, ist das Bild von Lukas Wertheims Hinterkopf. Sie erkennt die dunkelbraunen Locken etwa drei Meter entfernt, mitten im Chaos der Tische, die ihre Mitschüler umgestoßen haben. Um sich zu verstecken. Um eine wie auch immer geartete Deckung zu schaffen, einen Schutz gegen die Kugeln, die überall im Zimmer umher peitschen. Wer bei drei nicht auf den Bäumen ist …
    Der ganze Raum

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