Querschläger
sieht aus, als ob eine Bombe explodiert wäre, und Jessica Mahler wundert sich, dass es bei all dem Chaos um sie herum ausgerechnet Lukas Wertheims Hinterkopf ist, den sie sehen kann. Braune Locken, ein wenig zu lang, in einem See aus Blut, das an den Rändern bereits gerinnt. Glas knirscht unter ihren Sohlen, als sie vorsichtig auf die Füße kommt und wie in Trance darauf zugeht. Auf den Blutsee, der unter Lukas Wertheims Gesicht hervorquillt.
Und wieder das Wimmern. Lauter dieses Mal, weil die Person, von der es ausgeht, sie gehört hat. Das Knirschen ihrer Schritte auf den Glaskristallen.
Aber sie kann sich noch nicht auf die Stimme konzentrieren. Sie muss erst sehen, ob …
Sie will erst sichergehen, dass …
Sie will …
»Jessica?«
Ich hätte niemals den Mut dazu gehabt, denkt Jessica Mahler, als sie ein paar Sekunden später über Lukas Wertheims Leiche hinweg steigt. Den Mut, ihn zu töten. Da musste erst ein anderer kommen. Einer, der richtig Courage hat. Ja, denkt sie, Hass allein ist vielleicht doch nicht genug.
Und weil sie plötzlich so rasend schnell vergisst, dreht sie sich noch einmal um. Noch ein Blick auf Lukas Wertheims Jeans. Auf die Fensterkristalle, die wie durchsichtige Stachel in seinen nackten Unterarmen stecken. Winzige Wunden allenthalben. Es müsste wehtun, denkt sie, wenn man lebt. Aber Lukas Wertheim fühlt nichts mehr. Er ist tot. Ein letzter Blick noch, eine Erinnerung, die sie nie wieder verlieren darf. Locken. Scherben. Blut. Lukas Wertheim ist tot. Immer noch … Für immer!
Als sie wieder nach vorn sieht, entdeckt sie Mirja Libolski in der Ecke neben der Tafel. Wie sie dorthin gekommen ist und ob außer ihnen beiden noch andere Personen hier sind, hier in diesem Raum, lebende, verletzte Personen, Mitschüler, kann sie nicht beurteilen. Es ist, als blicke sie geradewegs durch eine enge Röhre. Ein geschrumpftes Blickfeld, in dem immer nur kleine Ausschnitte sichtbar werden. Glaskristalle zum Beispiel, und nur mit äußerster Mühe widersteht sie der Versuchung, sich ein weiteres Mal umzudrehen. Lukas Wertheims bemerkenswert unversehrt gebliebener Hinterkopf. Mirja Libolskis Schultern vor der fleckigen Wand, die diesen Raum vom nächsten Klassenzimmer trennt.
Jessica Mahler bleibt stehen und überlegt, ob es hinter der Wand wohl genauso aussieht. Genauso kaputt wie hier. Und genauso blutig.
»Jessie!« Mirja Libolskis Augen sind glasig und wirken wie tot. Aber als Jessica Mahler näher kommt, klärt sich ihr Blick, und Jessica kann förmlich zusehen, wie Mirjas Pupillen weit werden und das Blau ihrer Augen schwarz färben.
»Ja doch, ja, ich bin da«, flüstert sie, als ihr plötzlich einfällt, dass Mirja Libolski eine von denen ist, die mehr als nur einmal mit Lukas Wertheim gevögelt haben, was wahrscheinlich bedeutet, dass Lukas von Mirja keine Sexfilmchen gedreht hat. Warum auch? Die nuttige kleine Mirja hat ja nichts zu bieten, nichts anderes, nichts außer schnödem, billigem Sex. Jessica Mahler fühlt, wie sie wütend wird. Urplötzlich rasend wütend …
»Jessiiiie!«
Gott, diese dämliche Kuh wird sie noch beide verraten!
»Ja doch.«
»Ist er …«, stottert Mirja, aber Jessica Mahler legt ihr hastig einen Finger auf die Lippen.
»Sei still«, flüstert sie. »Er könnte zurückkommen.«
Mirja Libolski stößt einen erstickten Seufzer aus, und Jessica Mahler fühlt, wie eine jähe Panik in der anderen auflodert. Mirjas Arme fuchteln durch die Luft. Ziellos. Nutzlos. Dumm.
»Sei einfach still, okay?«, flüstert sie. »Und wenn du jemanden kommen hörst, stellst du dich tot, hast du verstanden?«
Mirja schnappt nach Luft, aber sie nickt. Folgsam wie ein Kind nickt sie vor sich hin, während sich ihre angstvollen Augen an Jessica Mahlers Gesicht festsaugen.
Jessica nickt auch und dreht sich dann langsam nach der Tür um.
Draußen auf dem Korridor scheint alles ruhig zu sein. Aber was heißt das schon? Ist es denn nicht beinahe genauso still gewesen, eben, beim ersten Mal?
Beim ersten Mal …
Sie erschaudert, als ihr klar wird, was sie da gerade denkt. Es wird kein zweites Mal geben, ruft sie sich selbst zur Ordnung. Er kommt nicht zurück. Sein Job hier ist erledigt. Lukas Wertheim ist tot.
So leise wie irgend möglich lässt sie sich neben Mirja Libolski auf den Boden gleiten und presst den Rücken gegen die Wand, als böte sie Schutz gegen das, was sich dort draußen auf dem Gang herumtreibt. Mirja rückt ein wenig näher an sie heran, was
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