Querschläger
den Toiletten begleiten würde. Dass er …
»Nicht nötig«, sagt sie, genau im selben Moment wie die Versehrte.
Sie sehen einander an und wissen auf einmal, dass sie etwas gemeinsam haben, dass sie etwas teilen, zumindest eine Einschätzung, eine Abneigung.
»Kommen Sie«, sagt Karen Ringstorff und schenkt dem Mädchen zum ersten Mal im Verlauf ihrer Begegnung so etwas wie ein Lächeln. »Wir gehen und verbinden das …«
Toilette 099, Erdgeschoss, 11:53 Uhr
Nikolas Hrubesch betrachtet sein Gesicht, das verzerrt wirkt unter dem Plastik, und lächelt. Ein blasses, sparsames Lächeln. Ein Lächeln ohne Inhalt. Zugleich ist ihm, als sähe er sich in diesem Moment zum letzten Mal, was vermutlich daran liegt, dass im Anschluss an das, was er jetzt vorhat, alles anders sein wird.
Auch sein Spiegelbild.
Auch seine Selbstwahrnehmung.
Er richtet sich auf und sieht sich noch einmal in die Augen, um sich den Ausdruck zu merken, der darin liegt. Unter dem Plastik versucht er, genauso zu gucken wie Cho Seung-Hui, der Amokläufer der Virginia-Tech-University in Blacksburg in seiner selbst gedrehten Videobotschaft. Genauso wirr. Genauso leer. Genauso gnadenlos.
Dann streift er sich die Maske über und denkt an den Tunnelblick, den angeblich alle Attentäter kurz vor der Tat bekommen, und daran, dass sich der Begriff »Amoklaufen« von einer barbarischen Sitte malaiischer Stämme ableitet, bei der von Opium berauschte Männer mit krummen Dolchen durch die Straßen laufen und alles niedermetzeln, was ihnen vor die Füße läuft. So lange, bis man sie tötet.
Aber ich, denkt Nikolas Hrubesch, ich werde nicht sterben.
Zumindest nicht heute.
In seinem Kopf blitzen ein paar Takte Madonna auf. Normalerweise ganz sicher nicht die Art von Musik, auf die er steht. Aber war das, was er jetzt hört, nicht auch irgendein Titelsong? Zu einem Bond-Film?
I guess I die another day …
Er tritt noch einen Schritt näher an den Spiegel heran. Mein Name ist Hrubesch, Nikolas Hrubesch. Und das hier ist definitiv nicht der Tag, an dem ich sterben werde. Diesen Part werden andere für mich übernehmen!
Er steht vollkommen unbeweglich und lauscht in die Stille, die sich auf dem Flur vor der Toilette ausgebreitet hat. Die viel beschworene Ruhe vor dem Sturm. So kommt es ihm zumindest vor. Seine Augen suchen die Leuchtzahlen seiner Armbanduhr. Es ist eine neue. Eine fremde. Eine, die er wegwerfen wird, sobald der Job hier erledigt ist.
Er schiebt sich die Glock in den Bund seiner Hose und denkt an Robert Steinhäuser, der sich auch auf einer Toilette umgezogen haben soll. Allerdings auf einer Herrentoilette, wenn es stimmt, was in den Zeitungen gestanden hat. Und im Internet. Dann setzt er sich den Rucksack auf.
Schwarz steht ihm. Findet er.
Stilvoll irgendwie.
I guess I die another day …
Er nickt. Hinter den Schlitzen des schwarzen Stoffes sieht er seine Augen glitzern. Und auf einmal kann er sie fühlen, diese unbändige Kraft, auf die er schon sein ganzes Leben lang wartet. Sie durchströmt ihn, machtvoll und warm, eine grotesk gesteigerte Wachheit. Grenzenlose Energie. Es ist, als ob die Verkleidung einen anderen Teil von ihm zum Leben erweckt. Einen dunkleren Teil. Einen, der bis zu diesem Augenblick verborgen gewesen ist. Verschüttet unter einem Haufen Konventionen.
Wie weit würden andere Leute gehen, wenn sie sicher sein könnten, dass man sie nicht erwischt?, denkt er. Wenn sie, durch eine Maske geschützt, ihren Trieben freien Lauf lassen könnten? Ohne Konsequenzen. Alles das tun, was sie sich sonst verkneifen müssen …
Ein interessanter Gedanke.
Er nimmt ihn mit, als er die Tür aufmacht.
Aber ein paar Meter weiter hat er ihn bereits wieder vergessen.
Raum 304, 3. Stock, 11:55 Uhr
Angela Lukosch ist gegangen.
Vor fünf Sekunden hat sie die Tür von Raum 304 hinter sich zugezogen. Und Miranda Kerr merkt, wie ihre Handflächen zu schwitzen beginnen. Das tun sie oft, wenn sie sich aufregt. Überhaupt schwitzt sie sehr viel in letzter Zeit. Abends. Nachts. Ständig. Und immer an ganz seltsamen Stellen.
Das ist der Stress, urteilt Hannah per Ferndiagnose aus Kolumbien. Du musst das unbedingt lockerer sehen, sonst bekommst du am Ende noch irgendeine Hautgeschichte. Neurodermitis oder so. Und wenn du so was erst mal hast …
Lockerer sehen! Ja, ja, klar doch!
Aber viel wichtiger als das Schwitzen und das Mobbing und alles andere ist im Moment die Frage, warum Angela Lukosch in letzter Zeit so oft zur Toilette
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