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Querschläger

Querschläger

Titel: Querschläger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Jessica Mahler unter den gegebenen Umständen nicht einmal unlieb ist, auch wenn sie Mirja an und für sich nicht besonders leiden kann. Sie blickt an sich herunter, und erst jetzt fällt ihr auf, dass da Blut ist an ihr, an ihrem T-Shirt. Winzige dunkelrote Spritzer, die ein wirres Muster bilden. Wo diese Spritzer herkommen, kann sie sich nicht erklären. Ihre Augen suchen ihre nackten Unterarme. Keine Verletzungen. Nicht einmal ein Kratzer. Und trotzdem blutbefleckt.
    »Was glaubst du, wann uns jemand hier rausholt?«, flüstert Mirja mit zittriger Stimme, als irgendwo in weiter Ferne das Geräusch von Rotorblättern zu hören ist.
    Jessica Mahler zuckt mit den Schultern. Ihr ist nicht nach Reden. Nicht jetzt. Erst als sie merkt, wie Mirjas Körper sich wieder verspannt, sagt sie eilig: »Bald. Sie kommen bestimmt bald.« Sie sieht Mirja fest in die Augen und versucht, ihrem Flüstern mehr Autorität zu verleihen. »Aber du musst jetzt endlich still sein, okay?«
    Mirja nickt wieder, doch Jessica ist sich nicht sicher, ob sie wirklich ruhig bleiben wird. Ob sie überhaupt versteht, was hier geschehen ist. Und wie das Gebot der Stunde lautet. Einen Augenblick lang denkt sie daran, wieder aufzustehen. Den Raum zu verlassen. Sich irgendwo anders zu verstecken, einzuschließen, sich zu verbarrikadieren, irgendwo, wo die dumme Mirja sie nicht verraten kann. Aber sie verwirft den Gedanken schnell wieder, weil sie weiß, dass Mirja ihr folgen wird, wohin auch immer sie geht. Dass sie Mirja nicht loswird. Dass sie jetzt so etwas wie der Rettungsanker ist, an den sich die andere klammert. Und auf einmal empfindet sie ein elementares Triumphgefühl.
    Sie ist stark, Mirja Libolski ist schwach.
    Sie weiß, was zu tun ist, während sich Mirja Libolski wie ein verängstigtes Tier benimmt.
    Sie ist die Überlegene, die Siegerin.
    Sie fühlt, wie die Erkenntnis ihr neue Kraft gibt. Sie wird überleben. Sie wird sich retten. Sich und Mirja. Und für den Rest ihres Lebens wird sie wissen, dass sie stark genug gewesen ist, dieser Hölle zu entkommen. Ganz im Gegensatz zu IHM. Ganz im Gegensatz zu Lukas Wertheim.
    Jessica Mahler lächelt leise in sich hinein, während Mirja Libolski noch ein Stück näher an sie heran kriecht.
    So aneinander gekauert, die versteinerten Blicke auf die geöffnete Tür gerichtet, sitzen sie auf dem staubigen Linoleum und warten …
    Treppenhaus C, 2. Stock, 12:17 Uhr
    Nikolas Hrubesch stößt die Brandschutztür am Ende des Ganges auf und rennt die Stufen hinunter. Das Treppenhaus ist verwaist. Nicht der winzigste Hinweis darauf, dass in diesem Gebäude noch vor wenigen Minuten Unterricht gehalten wurde.
    Eine halbe Treppe unter ihm taucht der Eingang zur Turnhalle auf. Ein weiß-rot gestreiftes Plastikband ringelt sich zwischen den Griffen der zweigeteilten Tür wie eine Schlange. Darüber ein schlichtes weißes Schild. Vorsicht, Bauarbeiten. Im Vorbeigehen blitzt ein Bild in ihm auf, ein alter Schwarz- Weiß-Film, den er irgendwann mal als Kind gesehen hat. Heinz Rühmann und ein falsches Baustellenschild, das einer Horde von grotesk kostümierten Pennälern zu einem freien Tag verhilft. Und ein paar Lehrer, die im Rahmen einer hastig anberaumten Krisensitzung beschließen, eine künstliche Baustelle zu errichten, um das Ausmaß ihrer Schmach zu vertuschen. Aber das Schild dort an der Tür ist echt, die Turnhalle des Clemens-Brentano-Gymnasiums erst in ein paar Wochen wieder benutzbar. Noch so ein glücklicher Umstand, denkt Nikolas Hrubesch. So haben wir wenigstens unsere Ruhe hier unten.
    Von den letzten Stufen zum Untergeschoss nimmt er immer gleich drei auf einmal.
    Er fliegt förmlich.
    Ja, denkt er, Töten verleiht Flüüüügel!
    Auf dem Gang brennt nur die Notbeleuchtung. Kleine runde Lampen, die kaum etwas erhellen. Der lange Flur vor ihm erinnert flüchtig an einen Schacht. Von links und rechts gähnen ihn sperrangelweit offene Türen an. Rostige Duschköpfe, die seit Jahrzehnten niemand mehr benutzt hat, ragen wie sehnsüchtig ausgestreckte Arme in die schummrige Düsternis. Blinde Wasserhähne allenthalben. Gesprungene Fliesen. Rostige Trennwände, rostige Türschlösser, rostige Versuche, eine nicht vorhandene Intimsphäre zu wahren. Duschen tut in diesen Räumen trotzdem niemand. »Versifft« ist das Wort, das beinahe jedem in den Sinn kommt, der durch die geöffneten Türen blickt.
    Neben den Duschen befinden sich die Umkleideräume, in denen sich die Schüler für den Sportunterricht

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