Querschläger
umziehen, nach Geschlechtern getrennt und so zahlreich, dass man den Eindruck gewinnen könnte, Leibesertüchtigung stehe ganz oben auf der Liste jener Dinge, auf die an dieser Schule Wert gelegt wird.
Nikolas Hrubesch stürmt weiter.
Vor ihm, am Ende des Ganges, erscheint der Werkraum, in den Herr Bergenhem und Herr Laurin von Zeit zu Zeit ihre Kunstkurse treiben, um zu töpfern oder irgendwelche bizarren Plastiken aus Alteisen und Müllresten zusammenzuschweißen. Tätigkeiten, die man sonst nirgendwo ausführen darf, weil sie mit Dreck oder Lärm oder offenem Feuer verbunden sind. Über das Töpfern und Schweißen hinaus wird der Raum gemieden wie eine Leichenhalle. Zu komfortabel die beiden atelierartigen Zeichensäle, die vor ein paar Jahren unter dem Dach des Altbaus eingerichtet worden sind, als dass man seine Zeit freiwillig in diesem Loch verbringen würde.
Nichtsdestotrotz riecht es nach feuchtem Ton. Aber das mag auch wieder so ein Über-Eindruck sein. Ja, denkt Nikolas Hrubesch. Wie bei einem Wolf oder einem anderen Wildtier, das so weit riechen kann wie andere gucken. Oder noch weiter. Fasziniert von seinen neuen Fähigkeiten reckt er seine Nase in die Luft und wittert. Alter Schweiß, Staub, Schimmel und entfernt auch Exkremente, obwohl er sich beim besten Willen niemanden vorstellen kann, der hier unten auf die Toilette ginge.
Vor der Tür zum Putzraum reißt er sich die Maske vom Kopf, stopft sie in den Bund seiner Hose. Seine Haut ist nass geschwitzt unter dem Plastik und wird heilfroh sein, wenn sie in ein paar Minuten wieder Luft kriegt. Atmen kann. Darauf freut er sich. Einerseits. Andererseits ist er fast traurig darüber, dass es nun beinahe zu Ende ist. Dass er sich anschickt, die letzte Etappe seiner ganz persönlichen Grenzerfahrung in Angriff zu nehmen. Das Finale gewissermaßen.
Ein letzter Blick auf die Uhr, ein letztes Vergewissern, dass es noch immer still ist, über ihm, um ihn, dass sie allein sein werden. Ungestört. Dann stößt er die Tür auf.
Sven Strohte steht an der Wand gegenüber und blickt ihm entgegen wie ein verschrecktes Rehkitz.
Das ist die letzte Unbekannte in meiner Gleichung gewesen, denkt Nikolas Hrubesch, und verwundert stellt er fest, dass er so etwas wie Erleichterung empfindet, darüber, dass der Klassenkamerad tatsächlich hier ist. Noch immer hier. Dass er sich an ihre Verabredung, an seinen Befehl gehalten hat. Dass er dort an der Wand steht wie ein Lamm, um sich ahnungs- und willenlos zur Schlachtbank führen zu lassen.
Er bleibt stehen und sieht ihn sich an. Ganz genau an. Erinnerungen werden lange Zeit das Einzige sein, was ihm bleiben wird von all dem, was er heute erlebt hat. Von dieser megageilen Erfahrung, die all seine Erwartungen übertroffen hat. Nikolas Hrubesch lächelt und denkt an Sexualstraftäter, die sich auch Jahrzehnte nach ihren Taten an irgendwelchen Erinnerungsstücken ihrer Opfer aufgeilten. Oder auch nur an den Bildern in ihrem Kopf. Bilder wie das von Sven Strohte, wie er da so verschreckt vor der Wand steht und beinahe das Atmen vergisst. Nikolas Hrubesch kann seine Angst hören. Und riechen. Und am liebsten würde er auf Sven Strohte zugehen, um dessen Angst auch noch zu schmecken.
Seine Augen irisieren.
Grün wie bei einer Katze.
Schon wieder so ein seltsam verstärkter Eindruck, denkt Nikolas Hrubesch, und zufrieden registriert er, wie Sven Strohte krampfhaft versucht, die mit aller Macht in ihm aufsteigende Panik im Zaum zu halten. Cool zu bleiben, während sich sein musischer Verstand verzweifelt darum bemüht, die Bedeutung seines Hierseins zu erfassen, sich über das Outfit seines Schulkameraden klar zu werden, über die Geräusche, die er gehört hat, während der langen Zeit des Wartens, und über die Plastikfolie, die noch immer um Nikolas’ Gesicht gewickelt ist und die seine Züge verzerrt, verfremdet bis zur Unkenntlichkeit.
Nikolas Hrubesch grinst, als Sven Strohtes Augen schließlich an der Waffe hängen bleiben, die direkt auf sein Herz gerichtet ist. Er kennt diesen Ausdruck. Der Kaninchen-sieht-Kobra-Blick.
Es hat geklappt, frohlockt etwas tief in ihm. Mein Plan ist tatsächlich aufgegangen, und ich werde wirklich und wahrhaftig Geschichte schreiben! Dieser Idiot dort wird alles tun, was ich von ihm verlange, und wenn ich richtig Glück habe, wird er sich vorher nicht noch in die Hosen machen. Aber selbst das wäre letzten Endes nur ein ästhetisches Problem. Unter den gegebenen Umständen würde sich
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