Querschläger
zu bewegen. Zu kriechen. Über die Kacheln, die mit einem Mal so unerträglich nach Desinfektionsmittel stinken, dass sie es kaum aushält. Aber sie beißt die Zähne zusammen und zieht sich am Rand des Waschbeckens hoch. Direkt neben dem gurgelnden Wasserhahn kommt sie auf die Beine, hölzern, wacklig. Ihr ist, als ob sie das Stehen erst wieder lernen müsste. Den aufrechten Gang. Verkürzte Evolution.
Sie überlegt, wann Angela Lukosch es gewagt haben mag, zu gehen. Und wohin. Wägt ab, was sie selbst nun tun soll. Welche Möglichkeiten sie hat in einer Situation wie dieser. Welche Optionen.
Es könnte gefährlich sein, diese Toilette zu verlassen …
Es könnte gefährlich sein, diese Toilette nicht zu verlassen …
Und Miranda Kerr entscheidet sich dafür, zu gehen. Zumindest bis zur Tür. Mit wild klopfendem Herzen schiebt sie den Kopf um die Ecke. Riskiert den Blick auf den Flur. Ins Ungewisse. Dort liegt etwas auf dem Boden. Gleich rechts. Neben dem Türrahmen.
Ist das etwa …?
Großer Gott!
Sie vergisst alle Vorsicht und fällt auf die Knie. Schon wieder die Knie. Müssten die ihr nicht eigentlich langsam mal wehtun? Ihre Fingerspitzen berühren Angela Lukoschs Hals. Er ist warm. Noch warm. Lebendig. Oder nicht? Miranda Kerr sucht nach dem Puls, aber sie findet keinen. Aus Angels Mundwinkel rinnt Blut. Ein dünnes, hellrotes Rinnsal, das mit jeder Sekunde, die vergeht, schwächer zu werden scheint. Oder rinnt dieses Blut schon längst nicht mehr? Warum, um alles in der Welt, kann sie nicht deuten, was sie sieht? Warum begreift ihr Verstand, der sonst so schnell ist, ausgerechnet in dieser Situation so gottverdammt langsam?
Die Fahrschule, denkt sie. Lebensrettende Sofortmaßnahmen. Wie ist das noch gleich gewesen? Sie hatten sich zu zweit zusammentun müssen, nachdem ein paar Auserwählte vor aller Augen an einem Dummy demonstriert hatten, worauf es ankam. Ihr Partner war ein blasser Junge gewesen, kaum einen Meter siebzig groß und im Gesicht ganz glatt, fast wie ein Fünfjähriger. Miranda Kerr nickt leise vor sich hin. Er hatte nach Kaugummi oder Zahncreme gerochen, dieser Junge, dessen Namen sie vergessen hat, und sie hatte sich gewundert, dass einer wie er überhaupt schon alt genug war, um seinen Führerschein zu machen.
Sie schluckt und reißt den Blick von Angela Lukoschs Hals los. Von der zarten Haut, die von keinem Pulsschlag bewegt wird.
Denk nach, denk nach, denk nach!
Der Punkt, an dem sich die Rippen teilen, und von dort drei Fingerbreit nach oben! Oder waren es fünf gewesen? Miranda Kerr fühlt, wie sie auf einmal wieder zu schwitzen beginnt. Dicke, kalte Tropfen quellen aus der Haut unter ihrem Haaransatz und laufen quer über ihr Gesicht bis zum Kinn. Sie schmeckt Salz, während sich ihre zitternden Hände an der Wölbung von Angelas Rippenbögen hinauf tasten. Wie viele verdammte Fingerbreit bis zum Herzen?
Sie entscheidet sich für drei und fängt an zu pumpen. Fünfmal. Zehnmal. Dann zögert sie, aber nur ganz kurz, bevor sie Angela Lukosch die Nase zuhält und ihr einen Schwall Atemluft zwischen die ehemals sorgfältig geschminkten Lippen bläst. Angels Brustkorb hebt sich, und Miranda Kerr wiederholt die Prozedur, wobei sie sich zwingen muss, nicht an das Blut zu denken, das Angela Lukoschs Mund verschmiert. Und an das Kotzen, das dem Massaker vorausgegangen ist.
Sie ist ein dreckiges Flittchen, flüstert eine Stimme tief in ihr. Sie hält sich für die Schönste und treibt es mit jedem Kerl, den sie kriegen kann. Bist du denn wirklich so naiv, dir einzureden, dass sie vorsichtig ist? Dass sie ein Gummi benutzt? Jedes verdammte Mal? Was machst du, wenn diese blöde Kuh dir jetzt auch noch Aids anhängt? Sie hat dich gequält, jeden Tag aufs Neue. Zählt das etwa gar nichts? Ist denn das alles so schnell vergessen? Lass sie doch einfach hier liegen, die Schlampe! Mach endlich, dass du hier rauskommst, und lass sie verrecken!
LASS DIESE GOTTVERDAMMTE SCHLAMPE VERRECKEN!
Miranda Kerr richtet sich auf. Mit dem Ärmel ihres T-Shirts wischt sie sich den Schweiß von der Stirn, der mit unverminderter Intensität aus ihren Poren tropft. Sie sieht Angela Lukoschs Gesicht an, das schön und leblos wirkt wie das einer Puppe. Ihre Augen wandern über die kajalumrandeten Lider, die geschlossen sind, fast so, als habe sich Angela Lukosch an diesem seltsamen Ort zu einem Nickerchen entschlossen. Mitten im Chaos. Mitten im Inferno einer Katastrophe, über die Miranda Kerr noch immer
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