Querschläger
nicht viel mehr sagen kann, als dass sie ein enormes Ausmaß haben muss. Angels halb geöffneter Mund klafft ihr entgegen, und für einen flüchtigen Moment berührt Miranda Kerr ihre eigenen Lippen, die blutig sind von Angels Blut. Sie denkt an die karierten Zettel in ihrem Mathematikheft. An die Kuhtitten. An all die Michelinmännchen, die in den vergangenen Monaten auf sie niedergeprasselt sind. Sie denkt an Gelächter, verstummende Gespräche, an gnadenlose, grausame, nicht enden wollende Schikanen. Und an den unscheinbaren Herrn Dorf aus dem Film Holocaust …
Dann pumpt sie weiter.
Sie hat panische Angst, Angela Lukosch die Rippen zu brechen, weil die sich so zart anfühlen, so seltsam verwundbar, und weil sie mal irgendwo gehört hat, dass so etwas ziemlich leicht passieren kann. Und dass dann die Gefahr besteht, dass sich Teile der abgebrochenen Knochen in die Lunge bohren. Aber sie hört nicht auf. Sie presst ihre Lippen auf Angels Lippen. Ignoriert die Schwärze hinter ihrer Stirn, die mit jedem Atemzug, den sie tut, tiefer wird. Und pumpt.
Sie pumpt, pumpt, pumpt, so lange, bis die Sanitäter sie mit Gewalt von Angela Lukoschs Leiche wegzerren.
5
Verhoeven wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die schweißnasse Stirn und rammte den Spaten in den lehmigen Boden vor sich. Wer konnte denn aber auch ahnen, dass die lockere Humusschicht, in die sich so wunderbar mühelos Löcher für Rosen graben ließen, gerade einmal zwanzig Zentimeter tief reichte?
Was darunterlag, schien aus einer überaus unfreundlichen Mischung aus Kies und Lehm zu bestehen und widersetzte sich jedem einzelnen seiner Spatenstiche auf das Heftigste, sodass er nur schleppend vorankam. Immerhin war es ihm in den vergangenen Stunden gelungen, die Flachwasserzone fertigzustellen und knapp ein Drittel jener Mulde auszuheben, die die tiefste Stelle bilden sollte. Den Plan, wonach diese im Durchschnitt rund einen Meter tiefer als die flacheren Bereiche des Teiches werden sollte, hatte er bereits aufgegeben, und inzwischen dachte er ernsthaft darüber nach, die Flachwasserzone über die gesamte Fläche des Sees auszudehnen, der dann freilich eher den Namen Lache verdient haben würde, wie ihm schmerzlich bewusst war. Und schmerzlich gleich im doppelten Sinn, denn sein Rücken fühlte sich an, als habe er gänzlich untrainiert an einem Ironman-Wettkampf teilgenommen.
Er seufzte und wollte gerade wieder nach dem Spaten greifen, als er seine Tochter hörte. Nach einem chaotischen und überdies viel zu kurzen Frühstück hatte er Silvie gebeten, Nina an diesem Tag ausnahmsweise vorzeitig zum gemeinsamen Mittagessen aus dem Kindergarten zu holen, damit sie einen Teil der verlorenen Zeit nachholen konnten, und obwohl seine Frau ansonsten nur sehr schwer für derartige Extrawürste zu begeistern war, hatte sie offenbar Wort gehalten. Verhoeven hörte Ninas lautes, erstaunlich sonores Lachen im Wohnzimmer hinter der geöffneten Terrassentür, und wenige Augenblicke später kam sie auch schon über den etwas zu lang gewachsenen Rasen gesprungen. Sie hielt eine Flasche mit Wasser in den Händen und sprühte förmlich vor Energie und Tatkraft. Doch zu Verhoevens größtem Bedauern war sie nicht allein …
»Guten Tag, Dominik«, sagte er, als die beiden Kinder das imaginäre Ufer seines Libellen-Befreiungs-Teichs erreicht hatten.
Der Angesprochene verzog sein Mondgesicht zu einem freundlichen Lächeln. »Hi, Mister Verhoeven.«
Die Anrede des Jungen legte nahe, dass seine Eltern die Frage, inwieweit Englischunterricht im Vorschulalter eine unwiederbringliche Chance auf spätere kosmopolitische Höhenflüge oder doch eher eine dem allgemeinen Bildungswahn geschuldete Schnapsidee darstellte, bereits zugunsten der ersteren Alternative beantwortet hatten, aber Verhoeven hatte noch gut die energischen Worte im Ohr, mit denen sich Theophila und Adrian Rieß-Semper gegen eine »nicht hinnehmbare Überforderung« ihres Sohnes ausgesprochen hatten, weshalb er Dominiks anglophile Begrüßung eher einer heimlich angeschauten amerikanischen Krimiserie zuschrieb als einem grundlegenden Sinneswandel der ökologisch-kritischen Sempers. Wenigstens nennt er mich nicht mehr »Mister Bulle«, befand er schicksalsergeben, indem er Mr. Rieß-Sempers helle, himmelblaue Augen fixierte.
»Und?«, fragte er. »Wie geht es dir so?«
»Gut«, entgegnete der Junge höflich. »Und Ihnen?«
Dieser Kerl ist aalglatt mit seinen fünf Lenzen, dachte Verhoeven. Ein
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