Querschläger
Schmerz auch nur deshalb so über Gebühr stark, weil sie einfach nicht akzeptieren konnte, was da gestern Abend mit ihr geschehen war. Eigentlich war es ja nicht einmal der Überfall selbst, der sie quälte, die Schrammen und Blutergüsse, die er ihr beigebracht hatte, sondern ihre eigene Unfähigkeit. Die Passivität, mit der sie die Gewalt dieses Fremden über sich ergehen lassen hatte. Die Enttäuschung darüber, dass sie sich nicht aus eigener Kraft hatte helfen können.
Ihre Augen glitten zwischen den parkenden Autos hin und her. Nach Lübkes Abgang hatte sie es zu Hause nicht länger ausgehalten und beschlossen, nach den restlichen drei Knöpfen ihrer Bluse zu suchen. Sie musste sie unbedingt finden, diese Knöpfe, vor allem, weil sie nicht wollte, dass etwas von ihr hier zurückblieb. Etwas, das eine Verbindung herstellte zwischen ihr und diesem entsetzlichen Ort. Während sie weiterging, dachte sie an einen Jungen, den sie gekannt hatte. Im Kindergarten war das gewesen. Dieser Junge, Stefan, hatte einen Vater gehabt, der gewalttätig gewesen war, aber das hatte sie erst viel später erfahren. Für sie war er einfach der Junge gewesen, der für die blauen Flecke an ihren Armen verantwortlich war. Und für die Bauchschmerzen, die sie gequält hatten, jeden Morgen aufs Neue. Ihre Mutter hingegen hatte ihr erklärt, dass Kindergarten etwas sei, das man über sich ergehen lassen müsse, von wegen der Sozialisation und so, und als das nichts geholfen hatte, war sie einmal mitgegangen und hatte mit einer der Kindergärtnerinnen gesprochen. Aber geändert hatte sich nichts. Es war erst in Ordnung gekommen, als Stefan eines Morgens von seinem Vater abgeholt worden und nie wieder zurückgekommen war. Winnie Heller pustete sich ein paar Ponyfransen aus dem Gesicht und überlegte, wie Stefan mit Nachnamen geheißen hatte, aber es wollte ihr nicht einfallen. Vier war ein Alter, in dem es noch keine Rolle spielte, wie einer weiter hieß. Oder was für eine Familie er hatte. Merkwürdig nur, dass sie sich ausgerechnet jetzt wieder an Stefan erinnerte, nachdem er jahrelang aus ihrem Bewusstsein verschwunden war. Vielleicht, weil sie gerade zum zweiten Mal erfahren hatte, wie es war, wenn man sich nicht wehren konnte.
Sie sah nach oben und suchte nach den Blättern, die über ihr gewesen waren, als sie auf dem kalten Boden gelegen und um Atem gerungen hatte. Die lackierten Blätter, in denen der laue Westwind gespielt hatte, und die anderen, die schwarzen. Aber jetzt, bei Tageslicht, wirkte alles so anders. So fremd. Winnie Heller seufzte. Wie am Abend zuvor versuchte sie, sich an der hölzernen Plakatwand zu orientieren, deren Vorderseite zur Straße zeigte. Nach rechts, dachte sie, ohne genau zu wissen, warum, die Stelle, die ich suche, liegt rechts von mir.
Sie richtete den Blick wieder auf den Boden und ging zögerlich weiter. Unter ihren Sohlen knirschte Schotter, irgendein dunkler Split, genau wie der, der nach dem Überfall an ihrer Haut geklebt hatte. Also war sie auf dem richtigen Weg, oder?
Sie sah sich um.
Weiter zur Straße hin schien die Asphaltdecke des Parkplatzes neuer zu sein. Intakter. Sie nickte und fühlte, dass sie beinahe am Ziel war. Desto größer war ihr Schreck, als sie unvermittelt den Vibrationsalarm ihres Handys an ihrem Körper fühlte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zog sie das Gerät aus der Tasche. Wahrscheinlich hatte Lübke die Sache, wegen der er von ihrer Wohnungstür abberufen worden war, inzwischen erledigt, und der Terror begann von neuem. Wie unerträglich hartnäckig dieser Mensch doch sein konnte! Sie wollte das Gespräch schon wegdrücken, als ihr Blick auf die Nummer fiel, die das Display anzeigte.
»Ja, Heller hier«, meldete sie sich, nachdem sie hastig auf die Taste mit dem grünen Hörer gedrückt hatte, bevor ihre Mailbox den Job übernehmen konnte. »Was gibt’s?«
»Haben Sie heute Vormittag schon mal Nachrichten gehört?«, erkundigte sich Verhoeven anstelle einer Antwort.
»Nein«, entgegnete sie, und im Stillen fügte sie hinzu: Tut mir leid, Boss, aber ich hatte wahrlich andere Sorgen, als zu Hause vor dem Fernseher zu hängen und mir die neuesten weltpolitischen Irrungen und Wirrungen zu Gemüte zu führen, sorry!
»Okay«, sagte Verhoeven, und an den Geräuschen, die ihn umgaben, erkannte sie, dass er von unterwegs aus telefonierte. Nicht von seinem heiligen Zuhause, das ein Tempel der Ruhe und des Friedens zu sein schien und das er penibel
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