Querschläger
Akte und blickte starr geradeaus. Seine Miene war unbeteiligt, fast so, als habe er ein unsichtbares Visier heruntergeklappt. Keiner der Kollegen sollte sehen, was er fühlte. Ob er überhaupt etwas fühlte. Nichtsdestotrotz wirkte er sichtlich angeschlagen an diesem Abend. »Weitere Personen befanden sich zum fraglichen Zeitpunkt nicht im Lehrerzimmer«, fuhr er fort, »allerdings will eine Zeugin von einem der Nebenräume aus gehört haben, wie der Attentäter nach einer ganz bestimmten Lehrerin gefragt hat. Und zwar …« Er blätterte wieder in seiner Akte, während die Blicke der Kollegen an seinem Gesicht klebten wie ein Schwarm hungriger Wespen an einem Puddingteilchen. »Der Name der betreffenden Lehrerin ist Karen Ringstorff. Sie unterrichtet Deutsch und Englisch und leitet außerdem auch die Theater-AG der Schule.«
In der Reihe vor Verhoeven begann einer der Polizisten eifrig zu nicken. Offenbar war er bei der entsprechenden Befragung dabei gewesen.
Höppner fing seinen Blick auf und nickte ebenfalls. »Frau Ringstorff hat den Kollegen gegenüber angegeben, wiederholt Schwierigkeiten mit Nikolas Hrubesch gehabt zu haben, sodass es durchaus denkbar wäre, dass der Junge ganz gezielt hinter ihr her gewesen ist. Allerdings befand sich Frau Ringstorff zur Tatzeit durch einen glücklichen Zufall nicht wie gewöhnlich im Lehrerzimmer, sondern in diesem Putzraum hier, der sich an die Herrentoilette und das Büro des Oberstufenleiters anschließt.«
Beim Stichwort »Putzraum« hob Verhoeven unwillkürlich den Kopf, und aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass auch Winnie Heller neben ihm die Ohren spitzte. Oh ja, dachte er, wenn es um Putzräume geht, werden wir definitiv hellhörig!
Sein Blick folgte dem roten Punkt von Höppners Laserpointer quer durch das Erdgeschoss zu einem kleinen Raum am Ende des Korridors.
»In der besagten Räumlichkeit gibt es einen Erste-Hilfe-Kasten und eine Liege zur Erstversorgung medizinischer Notfälle«, erklärte der Einsatzleiter mit hörbar angerauter Stimme. »Eine Schülerin hatte sich kurz vor Beginn der fünften Stunde an der Hand verletzt und musste verbunden werden. Frau Ringstorff begleitete das Mädchen und hat es vermutlich einzig und allein diesem Umstand zu verdanken, dass sie noch am Leben ist.« Er ließ den Laserpointer sinken und wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu. Offenbar wollte er keine Fehler machen. Und nichts durcheinanderbringen, was nicht leicht war bei der Fülle an Informationen, die in den letzten Stunden hereinschwappten. »Das dritte Opfer im Umfeld des Lehrerzimmers ist Jana Weinand, eine Vertreterin für Lernsoftware, die um zwölf Uhr einen Termin mit dem Direktor der Schule hatte und offenbar ein bisschen zu früh dran war. Sie hat mehrere schwere Schussverletzungen erlitten und schwebt nach wie vor in Lebensgefahr.«
Verhoeven machte sich eine entsprechende Notiz. Eine mögliche Augenzeugin, dachte er, gut und schön. Aber selbst wenn Jana Weinand überlebte, was würde sie erzählen können? Und was würden die anderen Augenzeugen berichten? All jene, die Nikolas Hrubesch auf dessen Höllenritt durch das Gebäude begegnet waren? Ihm oder seinem Partner, von dem sie bislang nicht einmal wussten, ob es ihn überhaupt gab. Verhoeven dachte an die Maske, die der Junge während seines Amoklaufs getragen hatte. Und an die Frischhaltefolie, die angeblich um sein Gesicht gewickelt gewesen und nun verschwunden war.
»Nach den Schüssen auf Frau Weinand ist Hrubesch über das östliche Treppenhaus in den dritten Stock rauf, wo er geradewegs das Klassenzimmer mit der Nummer 304 betreten hat«, setzte Lars Höppner unterdessen seine Erläuterung der zeitlichen Abläufe fort. »In diesem Raum haben wir drei Todesopfer einschließlich der Lehrerin, dazu zwei schwer- und mehrere leicht verletzte Schüler. Aus verschiedenen Gründen gehen wir davon aus, dass Hrubesch zumindest Helen Malgorias, die Lehrerin, und wahrscheinlich auch einen der Schüler ganz gezielt getötet hat.«
Eine Beamtin hinter Verhoeven hob die Hand. »Hat Hrubesch irgendwas gesagt, bevor oder während er abdrückte? Außer der Sache mit dieser Frau Ringstorff, meine ich.«
Höppner verneinte. »Nach bisherigem Ermittlungsstand nicht.«
Was auch nicht weiter verwunderlich ist, wenn er im Anschluss an das Massaker tatsächlich unerkannt davonkommen wollte, dachte Verhoeven bei sich. In diesem Fall hätte Nikolas Hrubesch auf keinen Fall riskieren dürfen, dass ihn später
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