Querschläger
jemand anhand seiner Stimme identifizierte.
»Nach einer Reihe von mehr oder weniger wahllosen Schüssen verlässt unser Amokschütze schließlich den Raum mit der Nummer 304 und tötet draußen auf dem Flur einen weiteren Lehrer und eine Schülerin, bevor er sich über das entgegengesetzte westliche Treppenhaus wieder in den zweiten Stock hinunter begibt«, erklärte Höppner. »Dort schießt er nach Aussagen von Zeugen abermals wild um sich, tötet einen elfjährigen Jungen und fügt einer weiteren Schülerin lebensgefährliche Verletzungen im Bereich des Abdomens und des Brustkorbs zu. Dann verlässt er den Altbau durch das angrenzende Treppenhaus und diesen Durchgang hier in Richtung Neubau.« Lars Höppner griff wieder nach seinem Laserpointer und trat an die Wand, auf die sein Laptop noch immer den Raumplan des Clemens-Brentano-Gymnasiums projizierte. »Wie Sie sehen können, sind die beiden Hauptgebäude der Schule durch ein vor ein paar Jahren nachträglich eingezogenes Zwischengebäude miteinander verbunden«, erklärte er, indem er die entsprechenden Bereiche auf dem Plan markierte. »In diesem Zwischengebäude gibt es verschiedene Durchgangsmöglichkeiten, um insbesondere den Schülern der Oberstufe ein schnelleres Erreichen von Kursräumen im jeweils anderen Teil der Schule zu ermöglichen, und zwar im Erdgeschoss sowie im zweiten und im dritten Stock.« Der Strahl seines Laserpointers zuckte über die Wand. »Der Durchgang im Erdgeschoss führt normalerweise geradewegs in die Turnhalle der Schule, ist aber aufgrund von Bauarbeiten derzeit gesperrt, die beiden anderen Durchgänge sind wie gewohnt offen gewesen und werden – soweit man mir berichtet hat – viel und gerne genutzt.« Höppner räusperte sich einige Male kurz und entschlossen, bevor er fortfuhr: »Unser Amokschütze hat, wie bereits erwähnt, den Durchgang im zweiten Stock genommen, in dem auch die Bibliothek der Schule untergebracht ist. Dort haben wir zwei Tote, die Schulsekretärin und eine fünfzehnjährige Schülerin.«
Verhoeven blickte auf seine Notizen hinunter und stellte mit Entsetzen fest, dass die letzten Opfer, die er auf seinem Zettel vermerkt hatte, nur mehr Nummern trugen. Und obgleich er ganz sicher war, dass Lars Höppner keine Namen genannt hatte, fühlte er doch etwas wie Schuld darüber, dass er Menschen, die auf eine derart brutale Art und Weise ums Leben gekommen waren, so einfach zu Zahlen degradiert hatte. Opfer Nummer sieben. Opfer Nummer acht. Verhoeven schüttelte den Kopf. Das Ausmaß dieser Blutspur überfordert uns, dachte er. Und noch immer sind wir nicht zu Ende …
»Nach dem Verlassen der Bibliothek betritt Hrubesch schließlich den sogenannten Neubau«, fuhr Höppner hinter seinem Rednerpult in monoton-sachlichem Ton fort. »Er öffnet ein paar Türen, schießt in verschiedene Klassenzimmer und ballert wie ein Berserker hinter den Flüchtenden her. Dabei stirbt ein weiteres Mädchen.« Und als habe er Verhoevens vorangegangene Gedanken gelesen, warf er einen kurzen Blick in sein Dossier und fügte hinzu: »Lisa Juhl, sechzehn Jahre alt. Schülerin der elften Jahrgangsstufe.«
Verhoeven notierte Namen und Alter des Mädchens und versah seine Notiz zusätzlich mit einem dicken, trotzigen Kringel. Lisa Juhl, sechzehn Jahre alt. Dann überflog er zum wiederholten Mal seine Aufzeichnungen. Soweit er mitgezählt hatte, mussten das jetzt eigentlich alle Todesopfer gewesen sein. Alle außer Hrubesch, ergänzte er im Stillen. Hrubesch, der – so wie die Dinge lagen – selbst zum Opfer geworden war. Aber zu wessen? Und warum?
»Unser Amokschütze verlässt die zweite Etage schließlich über das Neubautreppenhaus, das ihn an der versperrten Turnhallentür vorbei geradewegs ins Untergeschoss führt, wo er, wie Sie alle wissen, durch einen aufgesetzten Kopfschuss stirbt«, beendete Höppner in diesem Augenblick seine Zusammenfassung der Geschehnisse, und Verhoeven dachte wieder an jenen zweiten Schützen, den sie suchten und von dessen Existenz offiziell noch niemand etwas wusste. Er ließ seine Blicke über die Köpfe der Kollegen gleiten und fragte sich, wie viele von ihnen eingeweiht waren oder doch zumindest einen entsprechenden Verdacht hegten. Und wie lange es wohl dauern würde, bis etwas von all dem, was sie hier hinter verschlossenen Türen besprachen, an die Presse durchsickerte.
»Nun denn, meine Damen und Herren …« Lars Höppner knipste seinen Laserpointer aus und sah sich in den Gesichtern der
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