Querschläger
Anwesenden um, wobei sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde an Verhoeven und seiner Kollegin hängen blieb. »Der Rest ist Ihnen bekannt.«
Schön wär’s, dachte Verhoeven, aber genau wie alle anderen nickte er.
»Vielleicht noch ein paar Worte zu den verwendeten Waffen«, fuhr Höppner mit einem tiefen Seufzer fort, der deutlich machte, dass es ihm ganz und gar nicht gefiel, ein derartiges Unmaß an Fakten innerhalb einer so kurzen Zeit abarbeiten zu müssen. »Das Einzige, was wir augenblicklich mit einiger Sicherheit sagen können, ist, dass der Junge aus beiden Waffen gefeuert hat, wobei er – in diesem Punkt sind sich alle unsere Zeugen einig – eindeutig die Pistole favorisierte.«
Dasselbe hat Hinnrichs auch gesagt, dachte Verhoeven.
»Bei dem verwendeten Gewehr handelt es sich um eine Vorderschaft-Repetierbüchse der Marke Pedersoli, Kaliber 45, mit einer Magazinkapazität von zehn Patronen«, las Höppner aus seinem Dossier ab. »Von der reinen Effektivität her ist eine solche Waffe sicherlich nicht so gut geeignet wie eine Automatik oder Pumpgun, aber immerhin verfügt die genannte Büchse über eines der schnellsten nicht automatischen Repetiersysteme und ist von der Optik her durchaus eindrucksvoll.« Er hielt einen Augenblick inne und strich sich flüchtig über seine Stirnglatze. »Die verwendete Glock hatte einen getunten Abzug, das heißt, Abzugs- und Steuerfeder sowie der Schlitten der Waffe waren so manipuliert, dass das Abzugsgewicht deutlich geringer ausfällt als bei der Standardausführung. Augenblicklich versuchen die Kollegen im Labor herauszufinden, ob die genannten Veränderungen von einem Fachmann vorgenommen wurden oder ob der Junge selbst Hand angelegt hat.«
»Weiß man schon, wo Hrubesch die Waffen herhatte?«, meldete sich zu Verhoevens Überraschung Winnie Heller zu Wort.
Lars Höppner blickte auf. Allerdings nur ganz kurz. Dann sah er wieder weg. »Die Kollegen sind dran.«
Winnie Hellers Gesicht spiegelte deutlich ihre Unzufriedenheit mit dieser Antwort, doch sie sah von weiteren Rückfragen ab und wandte sich wieder ihren Notizen zu. Von dem einzigen nicht verdunkelten Fenster her fiel ein matter Abendsonnenschein auf ihr Gesicht, und wie bereits vorhin in Hinnrichs’ Büro fragte sich Verhoeven, warum sie an diesem Tag entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit derart viel Make-up verwendet haben mochte. Ob sie vielleicht einen Freund hatte, dem sie gefallen wollte. Oder ob doch noch etwas anderes dahintersteckte, etwas, das weniger erfreulich war …
»Was Nikolas Hrubeschs Motiv angeht, tappen wir leider ebenfalls noch vollkommen im Dunkeln.« Höppner betätigte die Fernbedienung in seiner Hand, und auf der Wand erschien eine Fotografie des Amokschützen, die einen erstaunlich reif wirkenden Jungen mit kurzem, aber keineswegs raspelkurzem Haar zeigte.
Kein Brutalo und offenbar auch kein rechter Chaot, urteilte Verhoeven, während seine Augen über das Bild an der Wand glitten, dessen Ränder leise zu flattern schienen. Auf Nikolas Hrubeschs Wangen lagen dunkle Schatten schlecht rasierter Bartstoppeln, die dem Gesicht des Jungen ein paar markante Konturen verliehen. Nichtsdestotrotz hatte Verhoeven, der bislang nur das körnige Passfoto aus den Nachrichten kannte, den Eindruck, dass Nikolas Hrubesch ein alles in allem eher unscheinbarer junger Mann gewesen war. Einer, den man kaum bemerken würde, wenn man ihm in der S-Bahn oder im Bus gegenübersaß.
Verhoeven betrachtete die dunklen und dabei erstaunlich verträumt wirkenden Augen des Jungen und musste unwillkürlich an die Bilder eines wild dreinblickenden Asiaten in martialischen Posen denken, die nach dem Massaker von Blacksburg durch die Medien gegeistert waren. Hinnrichs hat recht, dachte er, alles deutet darauf hin, dass wir es hier nicht mit einem gewöhnlichen Amoklauf zu tun haben. Irgendetwas an dieser Sache ist grundlegend anders als das, was wir bislang kannten. Nichtsdestotrotz haben wir zwölf Leichen.
»Als Schüler ist Hrubesch eigentlich ziemlich begabt gewesen«, riss Lars Höppners angeschlagene Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Allerdings auch stinkfaul, mit dem Ergebnis, dass seine schulischen Leistungen weit hinter seinen Möglichkeiten zurückblieben.« Höppner leckte sich über die Lippen, die mittlerweile so trocken waren, dass Verhoeven selbst aus der Entfernung ein paar borkige Hautschuppen erkennen konnte.
Die Mischung aus Fassungslosigkeit und angespannter Aufmerksamkeit, die den
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